- November 2004, Avricourt (Moselle) : Der 22-jährige Sébastien Briat verunglückt tödlich bei dem Versuch, einen Zug mit Atommüll zu blockieren. – 7. November 2024, Val d’Ornain (Meuse): Der Widerstand gegen radioaktive Transporte lebt weiter! In Gedenken an Sébastien haben wir in den letzten Tagen eine 25m2 große Mauer auf der alten Bahnstrecke errichtet, die der Staat für die Zwecke von Cigéo, dem Projekt zur Endlagerung radioaktiver Abfälle in Bure, sanieren will.
STOPPT DIE ATOMKRAFT – STOPPT CIGÉO!
Vor zwanzig Jahren starb der damals 22-jährige Aktivist Sébastien Briat an den Folgen eines tragischen Zugunglücks, als er zusammen mit anderen versuchte, einen Atommülltransport von La Hague in Richtung des deutschen Endlagers Gorleben zu blockieren.
Er und seine Gruppe wollten die sogenannte „Lock-on“-Technik anwenden und sich an den Schienen festbinden, um den Zug am Fahren zu hindern. Unglückliche Umstände verhinderten eine reibungslose Kommunikation mit einer anderen, vorgelagerten Gruppe von Aktivisten (der „Sicherheitsgruppe“), und der Zugführer wurde nicht gewarnt, dass sich Personen auf den Gleisen befanden. Darüber hinaus wurde nachgewiesen, dass der Zug viel schneller fuhr, als er hätte fahren sollen, um die durch frühere Blockaden verursachte Verspätung aufzuholen. Die Betreiber des Zuges hatten sich offensichtlich dafür entschieden, mehrere Sicherheitsstandards zu ignorieren oder zu missachten. So war der Zug nicht nur zu schnell, sondern wurde auch nicht von den üblichen Polizeikräften begleitet, die einen Alarm hätten auslösen können. Bei der Ankunft des Zuges war die Einsatzgruppe nicht angekettet, sondern befand sich in unmittelbarer Nähe der Gleise. Sebastian wurde vom Zug erfasst und erlag noch am Unfallort seinen Verletzungen.
FÜR EIN WÜRDIGES GEDENKEN AN BICHON
Es gibt sehr unterschiedliche Ansichten zu diesem tragischen Ereignis. Der Unfall hatte zahlreiche Folgen, insbesondere für die Betroffenen der Aktion und die Angehörigen des Mannes, den alle seine Freunde „Bichon“ nannten. Auch wir, die wir die Aktion der letzten Tage vorbereitet und durchgeführt haben, haben sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das, was am 7. November 2004 in Avricourt passiert ist. In einem Punkt sind wir uns jedoch einig: Dieses dramatische Ereignis ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Denn Sébastiens Tod hinterlässt nicht nur tiefe Wunden bei seiner Familie, seinen Freunden und all jenen, die ihn persönlich kannten, sondern ist auch das kollektive Trauma einer ganzen Generation von französischen und deutschen Anti-Atomkraft-Aktivisten.
Der Unfall führte zu weitreichenden Diskussionen innerhalb der Bewegung und hatte einen starken Einfluss auf ihre Entwicklung. Wir sind davon überzeugt, dass es richtig war, ist und immer richtig sein wird, sich gegen tödliche Atomtransporte zu stellen. Aber können wir die Verantwortung dafür übernehmen, uns ungeschützt einem Gegner auszuliefern, von dem wir wissen, dass Menschenleben nichts wert sind? – wir sprechen immerhin von einer Industrie, die jeden Tag die potenzielle Zerstörung aller Grundlagen des Lebens auf unserem Planeten in Kauf nimmt. Selbst nach so vielen Jahren haben wir keine einstimmige Antwort auf diese Frage.
Auch wenn die meisten von uns andere Wege des Kampfes als den zivilen Ungehorsam gewählt haben, erkennen wir den Mut und die Entschlossenheit an, die es braucht, um sich auf diese Weise gegen eine Ungerechtigkeit zu wehren. Ebenso ist es historisch unbestreitbar, dass Transportblockaden (zumindest in Deutschland) in dieser Phase nicht unwesentlich zum Erfolg der Bewegung beigetragen haben. Auch hier in Frankreich gab es andere Blockaden als die von 2004 (die manchmal zu weiteren schweren Unfällen führten), aber diese Protestpraxis erreichte dennoch nie die Popularität, die sie jenseits des Rheins hatte.
GESCHICHTE EINES GRENZENLOSEN UNGEHORSAMS
Die Verbindungen zwischen der französischen und der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung reichen bis in ihre Anfänge zurück. Die Kämpfe im „Dreyeckland“ (Fessenheim, Marckolsheim, Wyhl) oder die gemeinsame Mobilisierung in Malville 1977 – bei der der Aktivist Vital Michalon durch eine Granate der Polizei getötet wurde – markieren die Höhepunkte dieser ersten Phase.
Ab Ende der 1990er Jahre konzentrierte sich der Widerstand in Deutschland auf die sogenannten „Castor-Transporte“. Dabei ging es vor allem um die Verbringung hochradioaktiver Abfälle aus deutschen Kraftwerken und den Plutoniumfabriken in La Hague (Frankreich) und Sellafield (Großbritannien) an den Standort Gorleben in Norddeutschland. Es war also nur logisch, die Verbindung wieder aufzunehmen und den Kampf erneut gemeinsam über die Grenzen hinweg zu führen. Zu dieser Reihe von Blockaden auf beiden Seiten der Grenze hatte sich Sebastian entschlossen, seinen Beitrag zu leisten. Diese transnationale Verbindung hörte am 7. November 2004 nicht auf, ganz im Gegenteil. Die Proteste gegen die Rückführung des deutschen Atommülls wurden auch hier immer häufiger. Man erinnert sich zum Beispiel an die Sabotage von französischen und deutschen Hochgeschwindigkeitszügen im November 2008, die in der Öffentlichkeit als „Affäre Tarnac“ bekannt wurde. Im Jahr 2011 ermöglichte das Camp in Valogne zum ersten Mal auf französischer Seite eine Massenmobilisierung gegen diese Transporte.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nach jahrelanger Unterbrechung ausgerechnet in einigen Wochen der letzte dieser Atomtransporte von La Hague in Richtung Deutschland und dem Zwischenlager Phillipsburg (das Endlager in Gorleben wurde vor drei Jahren endgültig aufgegeben!) abfahren wird. Wir rechnen diesmal nicht mit starkem Widerstand. Wir wissen, dass sich die Tür zu diesem bewegten Kapitel der deutsch-französischen Anti-Atomkraft-Geschichte leise zuschließt.
Während es der deutschen Bewegung (bislang) nicht gelungen ist, sich nach dem Ausstieg aus der Atomstromproduktion neu zu erfinden, steht die relativ kleine französische Bewegung ihrerseits vor enormen Herausforderungen: der Ausbau der Plutoniumfabrik in La Hague mit einem neuen Lagerbecken, die „Wiederbelebung der Atomkraft“, die mit dem massiven Ausbau der Atomanlagen einhergeht, sowie der bevorstehende Baubeginn des Lagerprojekts Cigéo in Bure.
KEIN ZUG NACH BURE!
Auch die Verbindung zwischen dem Widerstand in Gorleben und Bure hat sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt, und Sébastien findet auch in dieser kollektiven Geschichte einen besonderen Platz. Die sich aufdrängenden Parallelen zwischen den Bauprojekten (sowie dem Widerstand gegen diese Projekte) führten von Anfang an zu einem intensiven Austausch zwischen diesen beiden lokalen Kämpfen. Es entwickelte sich eine aktive gegenseitige Unterstützung sowie tiefe persönliche Verbindungen und gemeinsame Projekte. 2004 war ein markantes Jahr in der Geschichte des Anti-Atomkraft-Widerstands im südlichen Meuse. Zwei Widerstandsaktivisten aus Gorleben kauften das Maison de Résistance in Bure. Damit schufen sie die erste lokale Anlaufstelle für Aktivisten in der Region. Dann im November – der schreckliche Unfall. Drei Jahre später, 2007, kaufte Sebastians politisches Umfeld den alten Bahnhof von Luméville. Ein Widerstandsprojekt, das sich explizit gegen die Instandsetzung dieser für das Cigéo-Projekt entscheidenden Bahnstrecke wendet.
20 Jahre später haben wir uns also zusammengefunden, um im Departement Meuse – dem Heimatdepartement von Sébastien und dem aktuellen Schauplatz des Anti-Atomkraft-Widerstands – einen dauerhaften Erinnerungsort zu schaffen. Dazu errichteten wir in Baudignecourt unter der Brücke, die über die alte, stillgelegte Eisenbahnstrecke auf den Gleisen führt, eine 25 m2 große massive Mauer aus ca. 6 Tonnen Betonsteinen, Zement und Stahl. Anschließend malten wir ein Fresko auf diese Wand.
Mit dieser Geste wollten wir zeigen, dass Sebastian nicht vergessen ist. Es geht uns darum, diesen Unfall als Teil der Geschichte unserer Bewegung zu betrachten, aus der wir für zukünftige Kämpfe lernen können und müssen. Und auch daran zu denken, dass die Kämpfe auf den Schienen in den kommenden Jahren einen immer zentraleren Platz in unserem Widerstand einnehmen werden.
Der Streckenabschnitt Ligny-Gondrecourt, den wir (mehr oder weniger symbolisch) blockiert haben, ist derzeit stillgelegt und gehört der SNCF. Seine Instandsetzung ist ab Herbst 2027 geplant. Auch wenn die Verbindung der lokalen Bevölkerung als Projekt zur Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs verkauft wird, handelt es sich um eine einfache Zubringerstrecke für den Bau von Cigéo und den späteren Transport von Giftmüll. Mehrere Kollektive und Bürgerorganisationen rufen dazu auf, sich gegen dieses Bauprojekt zu wehren.
Der nächste Abschnitt zwischen Gondrecourt und Saudron soll zu einer Privattrasse werden, die der Andra gehört und direkt in das Innere des Geländes von Cigéo führt. Im Hinblick auf die Errichtung dieser „verzweigten Terminalanlage (ITE)“ (wie sie im Neusprech der Atomindustrie genannt wird) unter der Leitung von Andra laufen derzeit Enteignungsverfahren gegen rund 300 Grundstückseigentümer entlang der alten Strecke. Dazu gehört auch der alte Bahnhof von Luméville. Seine derzeitigen Bewohner und Nutzer rufen zur Besetzung und Verteidigung von „LA GARE“ auf!
Sébastien, wir vergessen dich nicht!
Es wird niemals Cigéo oder Atommüll in Bure geben!
P.S.: Neben den erwähnten Aspekten war es auch unsere Absicht zu zeigen, dass materieller Widerstand gegen Cigéo auch außerhalb von Kleingruppenaktionen möglich ist, trotz verstärkter Überwachung und täglicher Repression rund um Bure. Auch wenn die materiellen Schäden für dieses Mal sehr begrenzt sind, hoffen wir, dass solche kollektiven Aktionen unsere Vorstellungswelt öffnen werden, indem sie uns beweisen, dass wir in diesem Gebiet in der Lage sind, tonnenweise Material unerkannt zu bewegen und ganze Nächte mit so vielen Menschen an den zukünftigen Schienen des größten Industriemüllprojekts Europas zu arbeiten. Ein riesiges Dankeschön an alle, die uns bei diesem kühnen Abenteuer geholfen haben!