Wo ist Lützerath jetzt?

Über einen Ort, der nicht blieb, aber dennoch weiterlebt – und die Klimabewegung umtreibt

Von Tatjana Söding

Im Vordergrund eine in Regenmantel gehülllte Demonstrantin, die einen Stab mit einem Fähnchen in die Höhe hält, auf dem 1,5-Grad steht. Im Hintergrund viel andere Demonstrierende.
Bestes Beispiel für einen Ermächtigungsmoment: Die Großdemonstration in Lützerath am 14. Januar mit 35.000 Menschen. Foto: Christoph Schnuell, CC BY 2.0

Lützerath bleibt!« – das war der Slogan, der in den letzten zwei Jahren zu einem Kristallisationspunkt der Klimagerechtigkeitsbewegung wurde. Doch Lützerath blieb nicht. Die Bilder von Polizist*innen, die gegen Aktivist*innen Gewalt ausübten, Greta Thunberg von der Abbruchkante des Tagebaus Garzweiler II forttrugen und die Kohlebagger des Energiekonzerns RWE beschützten, gingen um die Welt. Als auch die letzte Bastion der Verteidigung – ein Tunnel unter dem kleinen Ort, in dem sich die beiden Aktivist*innen Pinky und Brain verschanzt hatten – fiel, besiegelte die Abrissbirne das Schicksal, das die Grünen Politiker*innen Robert Habeck und Mona Neubaur bereits im Oktober mit RWE ausgehandelt hatten: Lützerath muss verschwinden, damit unter ihm die Braunkohle aus dem Boden gebaggert werden kann. (ak 666)

Vielerorts wurde danach der freie Fall der Klimabewegung beschworen. Gelähmt, gespalten, erfolgs- und orientierungslos würde sie nach Lützerath auf den schlammigen Boden der Tatsachen fallen. Lützerath habe doch keinerlei realpolitische, geschweige denn klimapolitische Bedeutung gehabt.

Spricht man jedoch mit Mitgliedern der Klimabewegung wie den Aktiven von Fridays For Future, Ende Gelände, der Letzten Generation, den Scientists for Future und der Initiative Alle Dörfer Bleiben, so ist der Abriss des Dorfes keine Niederlage, sondern ein Moment der Wiederbelebung. Bestes Beispiel für diesen Ermächtigungsmoment waren mehr als 35.000 Menschen, die aus ganz Deutschland zu einer Demonstration ins rheinische Kohlerevier angereist waren, um ein Zeichen für den Klimaschutz zu setzen. 

Diese Solidarisierung innerhalb der Bewegung sowie die Unterstützung von Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus kommentiert das Presseteam von Ende Gelände so: »Wir waren richtig viele. Vor allem waren wir viele, die zivil ungehorsam waren, die organisiert und unorganisiert durch Polizeiketten geflossen sind und die Polizei bis zu ihrem militärischen Festungsring um Lützerath zurückgedrängt haben. Die Menschen waren wütend und entschlossen, und wir haben gemerkt: Gemeinsam haben wir unglaubliche Kraft.« 

Neue Solidarität

Und diese Kraft strahlt weiter: Zoe Ruge und Sumejja Dizdarević, Pressesprecher*innen der Letzten Generation und der Fridays for Future berichten gegenüber ak von unzähligen neuen Aktiven, die seit der Räumung in ihren Gruppen mitarbeiten. Die Klimabewegung ist durch Lützerath nicht nur gewachsen, sie hat auch Solidarität neu gelernt: »Zu der Letzten Generation gab es vor der Räumung ein distanziertes Verhältnis von anderen Gruppierungen innerhalb der Bewegung, das sich aber durch ihre Mitarbeit im Bündnis Lützerath aufgeweicht hat: Als die Polizeieinheiten auf dem Weg waren, einen Finger von Ende Gelände von einem Bagger zu räumen, wurden sie von Aktivist*innen der Letzten Generation, die sich auf die Zufahrtsstraße klebten, blockiert«, berichtet Christopher Laumanns, Mitbegründer des Bündnisses Alle Dörfer Bleiben, in dem sich Betroffene aller deutschen Braunkohlereviere zusammengeschlossen haben.

Lützerath fungierte als Ort, an dem sich die Aktiven der verschiedenen Gruppierungen persönlich kennenlernten, Vorbehalte abgebaut wurden und man erkannte, dass sich unterschiedliche Taktiken nicht widersprechen müssen, sondern ergänzen können. Und so lebt auch Lützerath weiter – nicht als Ort, sondern als Lehre. Dieser Narrativwechsel vom Erhalt eines realen Dorfes zum Fortbestand einer kollektiven Ermächtigung hat sich in der Klimabewegung bereits seit einigen Monaten vollzogen: »Lützi lebt« löste »Lützi bleibt« ab. 

Dass Lützerath weiterlebt, ist jedoch kein Automatismus: Es gilt, die neu gewonnene Stärke und die anfänglichen Solidarisierungerfahrungen auszubauen. Doch mit der Zerstörung eines realen Ortes der Zusammenkunft, der Vernetzung und des Austausches kann dieses Momentum schnell wieder verloren gehen. Denn Lützerath war, um es mit den Worten des Soziologen Erik Olin Wright auszudrücken, eine reale Utopie: Ein Ort, der mit der kapitalistischen Realität brach und es Menschen ermöglichte, alternative Gesellschaftsformen zu praktizieren. 

Lützerath hat dazu beigetragen, dass der Platz links der Grünen größer geworden ist.

Christopher Laumanns

»Das Zusammenleben in Lützerath war darauf fokussiert, nur das zu nehmen, was man braucht, und der Gruppe das zu geben, was man kann«, schildert Dizdarević ihre Erfahrung. Für sie ging es dabei »nicht nur darum, den Privatbesitz abzuschaffen, sondern ohne die Einwirkung äußerer Zwänge, der wir im Kapitalismus ausgesetzt sind, auf sich selbst und seine Mitmenschen zu achten«. 

Gleichzeitig konnte sich Lützerath nur zu einer antikapitalistischen Hochburg entwickeln, weil das Dorf aus Perspektive der Klimagerechtigkeit und der Industriepolitik zu einem relevanten Ort wurde. Hier ging es um Kohleabbau und Klimaschutz, um Enteignung und soziale Gerechtigkeit. Und: Hier wurde die jüngste Geschichte der deutschen Klimabewegung geschrieben: Vor zwölf Jahren habe die Gruppe ausgeco2hlt den Grundstein mit den ersten Klimacamps im Rheinland gelegt, Ende Gelände habe hier 2015 die erste Aktion zivilen Ungehorsams gestartet, berichtet Laumanns. Unweit des Hambacher Forstes wurde das Dorf nach dem Sieg der Bewegung, die den Erhalt des Waldes sicherte, zum nächsten Kristallisationspunkt im Kampf gegen die Konzerninteressen fossiler Energiekonzerne.

Die Kombination aus einer Dekade Organisierung, Klimagerechtigkeit und dem Schutz von Anwohnenden kam in Lützerath auf einzigartige Weise zusammen. Einen neuen Ort mit gleicher Strahlkraft zu finden, könnte schwierig werden. Doch die Klimabewegung scheint nach keinem neuen Ort zu suchen: »In Lützerath ging es darum, den Braunkohletagebau und insbesondere Garzweiler II anzugreifen. Damit machen wir weiter, bis der letzte Kohlebagger stillsteht«, heißt es etwa von Ende Gelände. Auch stünden, um die Kohle unter Lützerath endgültig abbaggern zu können, weitere Enteignungen von Landeigentümern und der Abriss von sieben Windrädern an, berichtet Laumanns. »Die Grünen haben jedoch versprochen, dass es keine weiteren Enteignungen gibt und stehen anderswo für den Ausbau der Erneuerbaren ein – dies gilt es jetzt auch durchzusetzen«, so der Alle-Dörfer-Bleiben-Aktivist. 

Die Fridays möchten, dass die Regierung Pläne vorlegt, welche Maßnahmen getroffen werden, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, sollte die Kohle unter Lützerath abgebaggert und verfeuert werden. Und sie fordern ein Braunkohlemoratorium, das vor dem Kohleausstieg 2030 kommen soll. Erneuerbare Energien sollen schnellstmöglich ausgebaut werden, um die hochgehaltene Energiesicherheit zu gewährleisten – das sind die beiden Hauptthemen, die die Fridays kürzlich in einem persönlichen Gespräch mit NRW-Wirtschaftsministerin Neubaur herangetragen haben, erklärt Sumejja Dizdarević.

Der grüne Lack ist ab

Hier wird jedoch die zweite Herausforderung deutlich, der sich die Klimabewegung nach Lützerath stellen muss: die demokratische Repräsentation. Einerseits berichten alle Gruppierungen von dem Erfolg, in Lützerath die Grünen »demaskiert zu haben« (Zoe Ruge, Letzte Generation), »deutsche Klimapolitik für nationales und internationales Publikum diskreditiert zu haben« (Christopher Laumanns, Alle Dörfer Bleiben), »die neoliberale Fratze der Grünen« für alle sichtbar gemacht zu haben (Sumejja Dizdarević, Fridays for Future) oder den »grünen Lack von Habeck und Co abgekratzt« (Ende Gelände Presseteam) zu haben. 

Gleichzeitig verstehen sich alle Gruppierungen als demokratische Akteur*innen – die meisten richten sich ihren Forderungen direkt an die Regierenden und wollen diese in die Pflicht nehmen. Ohne eine Partei, die die Forderungen der Bewegung aufnimmt und in Gesetzestexte umsetzt, kann die Bewegung zwar auf der Straße wachsen, wird auf politischer Ebene jedoch wenige Erfolge erzielen. 

Lützerath habe, so der Tenor aus der Bewegung, auch den letzten Grünen-Anhänger*innen gezeigt, dass die sich selbst als bewegungsnah bezeichnende Klimaschutzpartei diese Rolle nicht erfüllen wird: »Die Grünen sind eine neoliberale Partei, die fossile Standort- und Energiepolitik unterstützt«, resümiert Ende Gelände. Aber auch die Linkspartei habe bisher in Regierungsverantwortung auf Landesebene wie etwa in Brandenburg eher als Bremsklotz in Kohleausstiegsverhandlungen agiert, berichtet Pao-Yu Oei. Er ist Initiator des Offenen Briefes »Ein Moratorium für die Räumung von Lützerath« der Scientists for Future. »Immer wieder wird Klimaschutz gegen die Interessen von Arbeitnehmenden ausgespielt, anstatt darauf hinzuweisen, dass eine sozialgerechte Energiewende Arbeitsplätze und ökologische Lebensgrundlagen retten kann«, so Oei. 

Trotzdem, so ist sich Laumanns sicher, »hat Lützerath dazu beigetragen, dass der Platz links der Grünen größer geworden ist«. Diesen gilt es nun zu besetzen, damit Gewalterfahrung und Wut, die auch bürgerliche Menschen aus Lützerath mitgenommen haben, nicht in Frustration und politische Verdrossenheit umschlagen. Die Ergebnisse der Wahlwiederholung zum Berliner Abgeordnetenhaus zeigen jedoch, wie schwer es ist, dieses politische Vakuum zu füllen: Die Klimaliste schaffte es nicht einmal auf einen Prozent Zustimmung der Wahlbeteiligten. Von einem »Lützerath-Effekt« keine Spur.

Um die repräsentative Lücke zu füllen, muss auch gegen das erstarkende Framing der Aktivist*innen als gewaltbereit vorgegangen werden. Nicht zu unterschätzen sei, so Zoe Ruge, dass der Diskurs, Klimaaktivist*innen seien mit Terrorist*innen zu vergleichen, bis in die gesellschaftliche Mitte vorgedrungen sei. Grund dafür war nicht allein das »Medienversagen« (Laummans). Auch eine Form des sogenannten autoritären Legalismus (Jürgen Habermas) habe den Gewaltdiskurs befördert, so der Philosoph Robin Celikates in den »Blättern« (2/23): die einseitige Interpretation der Bundesregierung, Lützerath müsse abgebaggert werden, um das Eigentumsrecht von RWE zu schützen. 

Oei sieht in dieser depolitisierenden Darstellung des Rechts einen Rückzugsort vor der Klimawissenschaft: Die Bundesregierung habe in ihrer Rechtfertigung des RWE-Deals auf alles verwiesen: Klimaschutzargumente, Sorge um Energieknappheit infolge des russischen Angriffskrieges und die Rechtslage. »Je mehr Studien veröffentlicht wurden, die belegt haben, dass die Kohle unter Lützerath weder für die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens noch für die Energieversorgung abgebaggert werden darf oder muss, desto stärker bezogen sich die Regierenden auf die juristische Komponente«. Doch auch das Recht ist ein Politikum, das gesellschaftlich gestaltet und an die Konflikte seiner Zeit angepasst werden muss – und stets gegen andere Rechte abgewogen werden muss. 

Wie die Leerstelle im politischen System besetzt und was gegen das Framing des gewaltvollem Aktivismus getan werden kann, darüber wird die Klimabewegung auf einem gemeinsamen Strategietreffen im Frühjahr diskutieren. Und darüber wird bei Straßenblockaden, Demonstrationen und anderen Aktionen des zivilen Ungehorsams im rheinischen Revier debattiert werden. Und möglicherweise auch an einem zentralen Ort, der einer neuen realen Utopie gleicht, einem neuen Lützi. Tatjana Söding

forscht zusammen mit dem Zetkin Collective über die Zusammenhänge zwischen Ökofaschismus und Kapitalismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.