Wir haben die Gerichtserklärung, die der Anarchist Alfredo Cospito am 14. März bei der Anhörung zur Haftprüfung wegen der „Operation Sibilla“ verlesen hat, bekommen und wollen sie so weit wie möglich verbreiten. Wir erinnern daran, dass (wie wir einige Tage später erfuhren) das Untersuchungsgericht von Perugia zum zweiten Mal die Anordnung der Untersuchungshaft gegen Alfredo und fünf weitere Gefährten aufgehoben hat, die der Anstiftung zu Straftaten mit dem erschwerenden Umstand des Terrorismus im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der anarchistischen Zeitung „Vetriolo“ und anderer Artikel und Beiträge angeklagt waren. Die „Operation Sibilla“ (im Zuge dessen der Staatsanwalt ursprünglich acht Haftbefehle gemäß Artikel 270bis StGB und 414 StGB mit terroristischem Hintergrund beantragt hatte, die später in sechs einstweilige Anordnungen umgewandelt wurden, wobei ein Haftbefehl für Alfredo erlassen wurde) ist zusammen mit dem Scripta-Manent-Verfahren eine der beiden „Grundsäulen“, auf denen die 41 bis-Haftanordnung für den Gefährten beruht.
Erklärung von Alfredo Cospito bei der Anhörung zur Haftprüfung wegen der einstweiligen Verfügungen bei der Operation Sibilla
Ich beginne mit einem Zitat meines Anstifters:
„Unser Rechtssystem hat diese Form der Todesisolation eingeführt, welches das 41bis-Regime ist und das in gewisser Weise sogar noch unzivilisierter ist als die pharmakologische Verstümmelung. So viel dazu, dass unser System nicht durch Zivilisation glänzt“. Carlo Nordio, 28. März 2019
Diese Worte waren die Initialzündung für den Kampf, den ich begonnen habe. Ich hätte nie gedacht, dass ich so weit kommen würde. Melodramen fand ich schon immer lächerlich, ich zieh eher Komödien vor, aber so ist es nun mal gelaufen. Sind wir oder sind wir etwa nicht im Land der Melodramen? Und so muss ich es nun glanzvoll beenden. Aber wenn ich darüber nachdenke, hat es etwas Ironisches: Ich bin der einzige Dummkopf, der im fortschrittlichen demokratischen Westen stirbt, weil er daran gehindert wird, das zu lesen und zu lernen, was ich will: anarchistische Zeitungen, anarchistische Bücher, historische und wissenschaftliche Zeitschriften, ganz zu schweigen von den geliebten Comics.
Ihr werdet zugeben müssen, dass es paradox und sogar ein wenig komisch ist. Aber ich kann so nicht leben, ich kann es einfach nicht, und ich hoffe, dass diejenigen, die mich lieben, das verstehen. Ich schaffe es nicht, mich diesem Nicht-Leben zu ergeben, dieser Drang ist stärker als ich, vielleicht weil ich ein anarchistischer Dickkopf aus den Abbruzzen bin. Sicherlich bin ich kein Märtyrer, Märtyrer sind mir zu wider. Ja, ich bin ein Terrorist. Ich habe einen Menschen angeschossen und ich habe mich zu dieser Geste mit Stolz bekannt. Aber ich muss auch sagen, diese Definition aus dem Munde von Staatsvertretern zu hören, die Kriege und Millionen von Toten auf dem Gewissen haben und die sich manchmal, wie einer unserer Minister, am Waffenhandel bereichern, bringt mich ein bisschen zum Lachen. Aber was soll’s, so ist der Lauf der Welt, zumindest bis die Anarchie triumphiert und der wahre Sozialismus, der antiautoritäre und antistaatliche, endlich das Licht der Welt erblickt. „Da kannst du warten bis du schwarz bist“ werdet ihr sagen und das werde ich auch tun, denn die einzigen Lichtblicke, die ich sehe, sind die Gesten der Rebellion meiner revolutionären Brüder und Schwestern überall auf der Welt, und das sind gewiss nicht wenige, denn sie werden mit Herz, Leidenschaft und Mut ausgeführt, so verstreut und ungestüm sie auch erscheinen mögen.
Nachdem ich dies klargestellt habe, möchte ich noch den Grund für meine hartnäckigen Wut auf das 41bis-Regime erläutern. Ich glaube, einige Juristen haben dass verstanden, aber nur sehr wenige: Das 41-bis ist eine Metastase, die euren so genannten Rechtsstaat zu untergraben droht und tatsächlich untergräbt, ein Krebsgeschwür, das in einer etwas totalitäreren Demokratie – und mit der Regierung Meloni sind wir fast so weit – dazu benutzt werden könnte, jede politische Dissidenz, jede Art von hypothetischem Extremismus zu unterdrücken, also mit Terror zum Schweigen zu bringen. Das Gericht, das über das mittelalterliche Schandmaskenurteils des 41-bis entscheidet, ist dem faschistischen Sondergericht sehr ähnlich, die Dynamik ist dieselbe: Ich kann diesem Höllenkreis nur entkommen, wenn ich meine politischen Überzeugungen, meinen Anarchismus verleugne, nur wenn ich irgendeine/n Gefährtin oder Gefährten verkaufe. Es beginnt immer mit den „Zigeunern“, den Kommunisten, den Antagonisten, den Chaoten, den Subversiven und dann der mehr oder weniger revolutionären Linken.
Wie könnte ich mich dem nicht widersetzen, jedenfalls auf verzweifelte Weise, und für einen Anarchisten, gerade weil wir keine Organisation haben, ist das gegebene Wort alles, und deshalb werde ich bis zum Ende weitermachen. Um mit den Worten des Anarchisten Henry zu schließen, der, wenn ich mich recht entsinne, sagte, bevor man ihm den Kopf abschlug: Wenn mir die Vorstellung nicht gefällt, kann ich sie genauso gut verlassen, hinausgehen und die Tür laut zuschlagen. Das werde ich in den nächsten Tagen tun, hoffentlich mit Würde und Gelassenheit, so weit es mir möglich ist.
Eine herzliche Umarmung an Domenico, der im 41-bis in Sassari einen Hungerstreik begonnen hat, in der Hoffnung, seine Kinder und Angehörigen wiedersehen zu können, in der festen Hoffnung, dass andere, die zum 41-bis verdammt sind, ihre Resignation aufgeben und sich dem Kampf gegen dieses Regime anschließen, das die Verfassung und den sogenannten Rechtsstaat – was immer das auch sein mag – zu Schmierpapier macht.
Für die Abschaffung des 41bis-Regimes.
Für die Abschaffung der verschärften lebenslangen Haft.
Solidarität mit allen anarchistischen, kommunistischen und revolutionären Gefangenen weltweit.
Ich danke euch, Brüder und Schwestern, für alles, was ihr getan habt, ich liebe euch und verzeiht mir meine unlogische Sturheit. Niemals mit gesenktem Kopf, immer für die Anarchie.
Lang lebe das Leben, nieder mit dem Tod.
Alfredo Cospito
(Aus einer Videokonferenz aus dem Gefängnis von Opera, 14. März 2023)
Anmerkung: Der Gefährte, der den derzeitigen Justizminister Nordio zitiert, bezieht sich auf den Artikel „Chemische Kastration, Rückkehr ins Mittelalter“, der in „Il Messaggero“ vom 28. März 2019 veröffentlicht wurde (derzeit verfügbar unter diesen Links: https://www.ilmessaggero.it/editoriali/carlo_nordio/editoriali_carlo_nordio-4390216.html & https://web.archive.org/web/20230323152621/https://www.ilmessaggero.it/editoriali/carlo_nordio/editoriali_carlo_nordio-4390216.html). Darüber hinaus bezieht sich die Bemerkung über den Minister, der sich am Waffenhandel bereichert, zweifellos auf den derzeitigen Verteidigungsminister Crosetto. Dieser war der zum Zeitpunkt seiner Ernennung Präsident einer großen Lobby der Rüstungsindustrie war. Schließlich zitiert Alfredo frei den Gefährten Émile Henry (1872-1894), dessen genaue Worte wie folgt lauten: „Übrigens ist es mein gutes Recht, das Theater zu verlassen, wenn mir das Stück unangenehm wird, und ich werde sogar die Tür beim Hinausgehen zuschlagen, selbst auf die Gefahr hin, die Ruhe derer zu stören, denen es gefällt.“ (italienische Übersetzung „Émile Henry, Colpo su colpo“, Edizioni Anarchismo, Trieste, 2013, S. 141; derzeit auch unter diesem Link verfügbar: https://www.edizionianarchismo.net/library/emile-henry-colpo-su-colpo).