Bericht von der italienisch-französischen Grenze
Von Mitte Oktober bis Mitte Dezember habe ich mich zwei Monate bei der «Maraude» in der Nähe von Briancon beteiligt.
Briancon liegt in den französischen Alpen, etwa 600 Höhenmeter unterhalb vom Pass Col de Montgenèvre, wo sich die Grenze zu Italien befindet.
Maraude auf französisch heißt so was wie Ausschau halten, auskundschaften. Und das bedeutet, dass die Maraude oben bei dem Pass die Geflüchteten erwartet, die den Kontrollen der Grenzpolizei ausweichen und deshalb enorme Risiken auf sich nehmen. Das Ziel der Maraude ist diese Menschen an einen geschützten Ort zu bringen.
Auf der Hinreise nach Briancon bin ich in Oulx gestoppt. Das ist der Talort auf der italienischen Seite zum Überqueren der Grenze. Dort hatte ich einen Kontakt zu einer italienischen Aktivistin, die gemeinsam mit anderen schon mehrere Besetzungen dort geöffnet und organisiert hat, damit die Geflüchteten einen guten Ausgangsort für die nächste Reiseetappe haben. Diese Besetzungen wurden leider immer wieder geräumt, sodass es zur Zeit nur eine kirchliche Unterkunft gibt, die tagsüber für Männer schließt und nur Familien können dort für eine Pause verweilen. Früher fuhren viele Busse, aber die französischen Behörden haben die Haltestellen gestrichen, sodass jetzt pro Tag nur noch ein Bus zum Pass hinauf in das italienische Grenzdorf Clavière fahren.
Die politische Grenze umschließt dieses Dorf fast, es ist nicht schwer sie zu überschreiten. Die geografische Grenze liegt auf der französischen Seite, weil die Grenzpolizei auf dem Pass kontrolliert und deshalb die Wege umso «sicherer» werden, umso höher mensch steigt. Aber wie das so ist in den Bergen…je höher mensch steigt, umso gefährlicher ist es. An dieser Grenze sind bereits vier Menschen gestorben und einigen mussten nach der Überquerung Gliedmaßen amputiert werden, weil sie erfroren waren. Ganz abgesehen davon ist es gerade für Familien oder nicht so sportliche Menschen sehr schwierig so steil zu steigen und dabei noch aufmerksam und versteckt zu agieren.
Der Winter war bereits angekommen und meist lag Schnee, teils bis zu 70 cm. Die Temperaturen nachts sind ständig unter null.
Die Maraude funktioniert so, dass wir an strategischen Punkten auf der französischen Seite nachts auf die Geflüchteten warten und sie dann entweder zu Fuß ins Tal begleiten oder bei Bedarf mit Autos nach unten fahren. Einige beobachten die Polizeibewegungen. Wir sind in Zweierteams unterwegs und koordinieren uns mit Handys.
Was in der Praxis recht schwierig ist, ist dass wir ja dann im Wald auf sie warten und ihnen aber gleichzeitig keine Angst machen dürfen. d.h. erst verhalten wir uns wie die Bullen und dann sind wir es nicht….das ist echt eine Herausforderung gut zu kommunizieren, vor allem weil wir ja kaum gemeinsame Sprache haben.
Am Tag werden außerdem nach Schneefällen diverse Wege mit Schneeschuhen neu gespurt, um so das Laufen zu erleichtern.
Seit 2016 gibt es in Briancon das «refuge solidaire», eine Unterkunft mit 80 Plätzen, die von einem Verein gekauft wurde und lediglich mit Spendengeldern und der Hilfe Freiwilliger organisiert wurde. In Frankreich gibt es keine Unterbringung für Männer, lediglich Familien und Minderjährige können darauf «hoffen». Dort können sie ausruhen und ihre Weiterreise organisieren. Das Problem ist, dass die Herberge eigentlich ständig völlig überbelegt ist und das ging dann mal wieder soweit, dass Ende Oktober 230 Menschen in dem Gebäude waren, sodass mensch in den Fluren gar nicht mehr laufen konnte. Zudem gab es (zum Teil sehr) gewaltvolle Situationen und die Sicherheit konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. So beschlossen die Verantwortlichen am 24.10.2021 das refuge zu schließen und alle zogen gemeinsam zum Bahnhof. In dieser und der folgenden Nacht wurde der Bahnhof von Briancon besetzt. Die Forderung der promigrantischen Organisierungen in Briancon war und bleibt, dass die Stadtverwaltung ein zusätzliches refuge öffnet und mehr öffentliche Verkehrsmittel zur Weiterreise und die dazugehörigen pcr-Tests an den Start bringt.
Die Reaktion der Verwaltung beschränkte sich leider darauf, dass sie einfach eine Hundertschaft nach oben an die Grenze geschickt hat und einige Nächte lang kaum noch Leute durchkamen. Also eigentlich war es eine doppelte Niederlage.
Als schließlich die Angst vor push backs und Repression (in Frankreich werden sehr schnell sog. oqtf ausgestellt. Das sind Ausreiseaufforderungen, die mit Abschiebehaft durchgesetzt werden können, wenn sie nicht eingehalten werden.) zu groß wurde, sind wir mitten in der Nacht «spontan und heimlich» in Absprache mit dem Priester in die Kirche umgezogen. Eigentlich wollte er uns nur für 2-3 Tage beherbergen, so dass wir täglich Versammlungen abgehalten haben, um im «Ausnahmezustand» zu agieren. Also die Versorgung aufrecht erhalten, Weiterfahrten organisieren, Leute von den Bergen holen, über Orte für die nächsten Tage nachdenken, politisch Druck aufbauen, uns kennenlernen, Pressearbeit uswusf.
Wir haben dann einen kommunalen Saal besetzt und sind sogar vier Stunden drin geblieben ;) das war leider ein bisschen kurz, aber auch eine schwierige Entscheidung, wie wir eine Besetzung mit und für Menschen machen können, die unbedingt Polizeikontakt vermeiden müssen.
Also sind wir zurück in die Kirche. Nach zwei Wochen durften wir auch die Gemeinderäume nicht mehr nutzen. Und so wurden Großzelte auf dem Gemeindegelände aufgebaut. Das war ein bisschen hart nachts Leute dahin zubringen und dann gab es nur noch kaltes Essen und kalte Betten. Zum Glück konnten alle Familien bei französischen Familien unterkommen. Nach einiger Zeit kamen wieder mehr Menschen in die Stadt.
Insgesamt mobilisierten sich echt viele tolle Menschen dort und es gab immer wieder politische Meinungsverschiedenheiten, aber insgesamt hielten wir gut zusammen und ergänzten uns. Und die verschieden Aktionen standen nebeneinander.
So wurde Madame La Prefète öffentlich zur Rede gestellt und Plakataktionen gegen den Bürgermeister organisiert. Diese Menschen beharren auf ihren Standpunkten und in ihrer Logik haben sie ja auch recht, wenn sie meinen, dass die «illegale Einreise» gestoppt werden muss (diese Argumentation ist immer wieder erstaunlich, wenn mensch bedenkt, dass es ja immer noch mitten im Schengenraum ist), können sie den Menschen ja schlecht einen Platz zum Ausruhen bieten…nur scheinen sie nicht realisieren zu wollen, dass sie sie nicht aufhalten werden, sondern sie nur dazu bringen höhere Risiken in Kauf zu nehmen.
Nach fünf Wochen unerhörtem Protest, wurde das refuge wieder in Betrieb genommen. Leider konnte keine der drei Forderungen durchgesetzt werden. Allerdings wurde Anfang Dezember ein neues Haus besetzt, was potentiell als Extra-Unterkunft dienen kann.
Neben dem refuge und der solidarischen Bergwacht (maraude) gibt es noch ein besetztes Haus «Chez Marcel», wo Geflüchtete wohnen, die länger in Briancon bleiben wollen. Um das Haus herum gibt es einen Kreis solidarische Menschen, die Kohle für das leben dort organisieren oder Holz oder Baustellen zum Beispiel.
Außerdem sind dort «Medicins du Monde» aktiv an der Grenze und bei der medizinischen Versorgung der Geflüchteten. Und es gibt eine politische Organisation «Tous Migrants», die vor allem Öffentlichkeitsarbeit machen, Spenden sammeln und Polizeigewalt vor Gericht bringen etc.
Hier noch einen kleinen Bericht als Radiointerview:
http://rdl.de/beitrag/am-tag-skipiste-der-nacht-fluchtroute