An diesem Sonntag, den 26. April, jährt sich der Super-GAU von Tschernobyl zum 34. Mal. Seit nunmehr drei Wochen, lodern nur wenige Kilometer entfernt von den Reaktorgebäuden schwere Waldbrände. Die IPPNW fordert anlässlich des Jahrestages der Atomkatastrophe den baldmöglichsten Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland und eine weltweite Energiewende. Der Kinderarzt und Co-Vorsitzende der IPPNW Deutschland, Dr. Alex Rosen blickt mit Sorge auf die aktuelle Lage: „Wir gedenken in diesen Tagen rund um den Tschernobyl-Jahrestag der vielen Millionen Opfer der größten Atomkatastrophe der Menschheitsgeschichte. Gleichzeitig sind unsere Gedanken bei den Helferinnen und Helfern, die aktuell in der Sperrzone von Tschernobyl versuchen, die Waldbrände unter Kontrolle zu bringen und den Menschen in der Ukraine, die befürchten müssen, dass ihr Land erneut von den radioaktiven Hinterlassenschaften der Atomindustrie überzogen wird.
30 Jahre beträgt die Halbwertszeit von
radioaktivem Cäsium-137, das im Frühjahr 1986 quer über Europa
herabregnete. Im bayerischen Wald und in Teilen Österreichs und
Tschechiens sind Wildschweine, Beeren und Pilze bis heute so stark
verstrahlt, dass ihr Verzehr das Krebsrisiko relevant steigern würde.
Viel gravierender jedoch ist die Situation in der Sperrzone rund um
Tschernobyl. Über ein rund 100.000 Hektar großes Areal verteilt rotten
bis heute große Mengen an hoch- und mittelgradig radioaktivem Schutt von
der Explosion und den wochenlangen Bränden in behelfsmäßig gesicherten
Lagerstätten vor sich hin. In unmittelbarer Nähe zum Sarkophag, der den
havarierten Reaktor 4 umgibt, lagern zudem die ausgebrannten Brennstäbe
der Reaktoren 1-3 in oberirdischen Abklingbecken.
Die Waldbrände
der letzten drei Wochen wirbeln radioaktive Partikel im Waldboden auf,
bedrohen die Stromversorgung der Reaktorgebäuden und Abklingbecken und
hüllen die nahe gelegene Hauptstadt Kiew bereits seit Tagen in schwere
Rauchschwaden. Noch wurden keine relevant erhöhten Strahlenwerte
außerhalb der Sperrzone gemessen, lediglich eine etwa hundertfache
Erhöhung der Konzentration von radioaktivem Cäsium-137 in der Luft von
Kiew (Daten des Zentralen Geophysischen Observatorium in Kiew zeigen
einen Anstieg der Cäsium-137 Konzentration von rund 6 μBq/m3 auf 700 μBq/m3 am 10.-11. April), die damit jedoch weiter deutlich unter den gesetzlichen Grenzwerten liegt.
„Strahlenbiologisch
gibt es keinen Schwellenwert, unterhalb dessen Radioaktivität harmlos
wäre,“ gibt Rosen zu bedenken: „Jede noch so geringe zusätzliche
Strahlendosis erhöht das Risiko, an Krankheiten wie Krebs,
Schlaganfällen oder Herzinfarkten zu versterben. Noch mag die Gefahr für
die Menschen in der Ukraine und Weißrussland verhältnismäßig gering
sein, doch das gilt nur so lange die Waldbrände sich nicht auf
hoch-kontaminierte Teile der Sperrzone ausbreiten. Es ist ein Ritt auf
Messers Schneide und eine ganz und gar unwillkommene Erinnerung an die
Zeit des Super-GAU vor genau 34 Jahren. Schon damals konnte man nur
hoffen, dass die Löscharbeiten Erfolge zeigen und der Wind sich nicht
dreht.“
Für Deutschland besteht – anders als noch 1986 – trotz
der aktuellen Waldbrände noch keine Gefährdung durch radioaktive Wolken
aus Tschernobyl. Windverteilungsmuster der französischen
Strahlenschutzbehörde IRSN zeigen zwar eine Ausbreitung der Rauchwolken
quer über Europa, doch noch sind die Konzentrationen von Rauch- und
Strahlungspartikeln so gering, dass eine relevante Erhöhung der
Strahlendosis außerhalb der Sperrzone noch nicht gemessen wurde. Wie
sich die Situation in den kommenden Wochen entwickeln wird, hängt stark
davon ab, ob es gelingt, die Brände rechtzeitig zu löschen, bevor sie
hoch radioaktive Areale erreichen.
Nach zwei Wochen erfolgloser
Löschversuche hat die ukrainische Regierung in den letzten Tagen
internationale Unterstützung erhalten – auch aus Deutschland. Nun wurden
die Löscharbeiten verstärkt und Tausende zusätzliche Feuerwehrleute in
die Sperrzone beordert. „Sie sind für diesen Einsatz aber nicht
ausreichend geschützt vor den stark erhöhten Strahlenwerten vor Ort und
wir machen uns daher Sorgen, dass sie ihren mutige Einsatz mittelfristig
mit ihrer Gesundheit bezahlen werden,“ so Rosen. Die Staatliche
Sperrzonen-Agentur der Ukraine veröffentlichte vergangene Woche
Luftmesswerte vom Reaktorgelände in Tschernobyl, die stark erhöhte
Cäsium-137 Konzentrationen von 180.000 μBq/m3 zeigten, also
Werte die mehr als 250 Mal höher lagen als zum gleichen Zeitpunkt in
Kiew, wo den Anwohnern schon geraten wurde, in ihren Wohnungen zu
bleiben und die Fenster geschlossen zu halten.
Auch 1986 wurden
junge Menschen ohne adäquate Schutzausrüstung für Aufräum- und
Löscharbeiten nach Tschernobyl geschickt. Damals wurden mehr als 800.000
sogenannte Liquidator*innen aus der gesamten Sowjetunion in die
Sperrzone gebracht, um dort teilweise mit bloßen Händen verstrahlte
Grafitbrocken umzuwuchten und die Feuer im Inneren des Reaktorkerns zu
bekämpfen. Die Mehrheit von ihnen bezahlte einen hohen gesundheitlichen
Preis für ihren Einsatz: Eine starke Häufung von Schlaganfällen,
Herzinfarkten, Krebserkrankungen, Erblindung und anderen
strahlenassoziierten Krankheiten bereits in jungem Alter wurden bei den
Liquidator*innen festgestellt. Die männlichen ukrainischen Liquidatoren
sterben etwa fünf Mal so häufig wie ihre Altersgenossen. (siehe
IPPNW-Bericht „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit
Fukushima“ von 2016).
„Statistisch gesehen gab es in den letzten
vier Jahrzehnten eine Atomkatastrophe mit Kernschmelze alle 10,7 Jahre.
Fukushima ist gerade 9 Jahre her. Bis zur nächsten Atomkatastrophe ist
es nur eine Frage der Zeit. Das nächste Tschernobyl, das nächste
Fukushima, könnte überall geschehen – auch hier in Europa. Die
Pannenmeiler von Doel, Tihange, Temelin, Beznau oder Fessenheim lägen
allesamt in unmittelbarer Nähe zu Deutschland, aber auch hierzulande
sollen noch bis 2022 Atommeiler weiter betrieben werden. Das nächste
Tschernobyl kann auch Gundremmmingen heißen,“ so Rosen.
Die IPPNW
fordert eine Abkehr von schädlichen fossilen und atomaren Energien und
eine Hinwendung zu erneuerbaren Energien, intelligenten Speicherlösungen
und Energieeffizienz. „Atomenergie ist nachweislich keine Lösung für
die Energieprobleme und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – da
brauchen wir keine Waldbrände in Tschernobyl, um uns daran zu erinnern,“
erklärt der IPPNW- Co-Vorsitzende.
Weitere Ressourcen:
Modellierung der Rauchwolken vom 3.-14. April 2020 laut dem franz. Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire IRSN: https://youtu.be/drBEy4V0j3I
Modellierung der Rauchwolken laut dem staatlichen Wissenschafts- und Technologiezentrum Atom- und Strahlensicherheit (SSTCNRS): sstc.ua/news/rozrahunkovi-trayektoriyi-rozpovsyudzhennya-potencijno-zabrudnenogo-povitrya-na-osnovi-onovlenih-danih
Satellitenbilder von Rauch über Kiew laut NASA Earth Observatory: earthobservatory.nasa.gov/images/146561/fires-burn-in-northern-ukraine
Veröffentlichung des franz. Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire IRSN: www.irsn.fr/EN/newsroom/News/Documents/IRSN_Information-Report_Fires-in-Ukraine-in-the-Exclusion-Zone-around-chernobyl-NPP_15042020.pdf
Flyer „Risiko und Nebenwirkungen der Atomenergie“ www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/informationsblatt_atomenergie.pdf
IPPNW-Report „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima“ www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/IPPNW_Report_T30_F5_Folgen_web.pdf