y Lüchow. Die Ankündigung der Capio-Klinik, keine Abtreibungen nach der Beratungsregelung vorzunehmen, hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Mittlerweile ist die Klinikleitung wieder zurückgerudert, diskutiert wird weiter. Über Abtreibungen, die Position der Kirche und Frauenbilder sprach die EJZ mit Oberkirchenrätin Dr. Kristin Bergmann, der Leiterin des Referates für Chancengerechtigkeit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie lebt in Kiefen.
EJZ: Sind Sie von der Heftigkeit der Diskussion überrascht?
Dr. Kristin Bergmann: Hitzige und emotional aufgeladene Debatten sind beim Thema Abtreibung nicht neu. Der Schutz des ungeborenen Lebens und die Selbstbestimmung der Frau wurden gegeneinander in Stellung gebracht. Die geltende Regelung von 1995 stellt einen hart errungenen Kompromiss dar: Abtreibungen bleiben rechtswidrig, es sei denn, der Gesundheitszustand der Frau wird durch die Schwangerschaft schwerwiegend beeinträchtigt oder die Schwangerschaft beruht auf einer Vergewaltigung. In den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft bleibt der Abbruch straffrei, wenn sich die Frau mindestens drei Tage vor dem Eingriff beraten lässt. Nach diesem Kompromiss war es viele Jahre ruhig, die Zahl der Abtreibungen sinkt seit 2004 kontinuierlich. Seit Kurzem flammt der Streit allerdings wieder auf. Die sogenannte Lebensschutzbewegung fordert das strikte Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Neben verschiedenen religiösen Gruppen engagieren sich vor allem die erstarkenden rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen für eine Verschärfung des Rechts. Das Thema spaltet wie kaum ein anderes.
EJZ: Welche Position vertritt die evangelische Kirche?
Menschliches Leben ist zu jedem Zeitpunkt unverfügbar. Deshalb setzt sich die evangelische Kirche für den Schutz ungeborenen Lebens ein. Wie dieser Schutz am besten erreicht werden kann, darum wurde auch in der Kirche intensiv und leidenschaftlich gerungen. Durchgesetzt hat sich die Erkenntnis, dass es in Schwangerschaftskonflikten keine einfachen Antworten und Lösungen gibt. Es ist unmöglich, sich die Hände in Unschuld zu waschen. Wer die Mutterschaft gegen den Willen der Frau erzwingen will, verletzt die Menschenwürde. Zwang wäre außerdem völlig sinnlos. Wo eine Frau kein Ja zu dem entstehenden Leben findet, wird kein Kind geboren, das zeigt die Geschichte. Ungeborenes Leben kann nur mit der Mutter, aber nicht gegen sie geschützt werden. Der ganz überwiegende Teil der evangelischen Kirche setzt sich deshalb dafür ein, dass Frauen letztlich selbst entscheiden und dass sie alle Hilfe erhalten, die sie brauchen, um das werdende Leben annehmen zu können.
EJZ: Beurteilen Frauen Abtreibung anders als Männer?
Ohne Frage haben Frauen hier einen anderen Blickwinkel. Die Frau und das werdende Leben bilden in der Schwangeren ja eine Einheit. Die christlichen Frauenverbände haben deshalb immer wieder darauf hingewiesen, dass der Konflikt nicht zwischen Frau und Kind, sondern innerhalb der Schwangeren liegt. Frauen erleben diesen Konflikt als einen höchstpersönlichen und wehren sich zu Recht, wenn andere ihn beurteilen wollen. Ungewollt schwanger zu sein, stellt eine Frau vor die existenzielle Frage, ob sie in ihrer konkreten Lebenssituation die Aufgabe als Mutter verantwortlich ausfüllen kann. Natürlich gilt das Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Aber mit dem Unterlassen einer Tötung ist es ja nicht getan. Wer nur auf dieses Gebot abstellt, vergisst, dass Leben nur gedeihen kann, wo es angenommen wird. Das belegen alle psychosozialen Untersuchungen über das Schicksal ungewollter und nicht angenommener Kinder. Die zentrale Frage in einem Schwangerschaftskonflikt ist deshalb, ob sich eine Frau oder ein Paar in der Lage sieht, das entstehende Leben aktiv und zuverlässig als ihr Kind anzunehmen. Es ist sehr bedenklich, dass das Recht auf Selbstbestimmung von manchen in die Nähe von Selbstsucht, Leichtfertigkeit und Bequemlichkeit gerückt wird. Selbstbestimmung heißt nicht, dass es um die Beliebigkeit freier Entscheidung geht und Gründe keine Rolle spielen. Selbstbestimmung heißt, dass die Entscheidung darüber, ob eine Schwangerschaft ausgetragen oder abgebrochen wird, nach Abwägung aller Gründe und Umstände von der Frau selbst gefällt werden soll und verantwortet werden muss.
EJZ: Sind Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, verantwortungslos?
Eine schwierige Partnerschaftssituation und berufliche oder finanzielle Unsicherheit sind die Hauptgründe, warum Frauen sich für eine Abtreibung entscheiden. Das zeigt eine Studie, die 2016 vom Bundesministerium für gesundheitliche Aufklärung herausgegeben wurde. Den Schwangerschaftskonflikt allein der Frau anzulasten, hieße, die Verantwortung der anderen, die an dem Konflikt direkt oder indirekt beteiligt sind, zu leugnen. Solange das größte Armutsrisiko darin besteht, alleinerziehend oder kinderreich zu sein, sind familien- und sozialpolitische Verbesserungen unabdingbare Voraussetzungen für einen glaubwürdigen Schutz des ungeborenen Lebens. Mich verstört, welche Geringschätzung manchmal mitschwingt, wenn über Frauen gesprochen wird, die ungewollt schwanger geworden sind und sich für eine Abtreibung entscheiden. Sie werden als leichtfertig und verantwortungslos dargestellt. Es wird ihnen unterstellt, sie hätten ihr Leben nicht im Griff.
Martin Luther hat das Gebot „Du sollst nicht töten“ im kleinen Katechismus so ausgelegt: Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten. So verstanden, wendet sich dieses Gebot nicht nur gegen das Töten, sondern hält auch dazu an, den Menschen als Mitmenschen anzunehmen und so zu behandeln, wie es ihrer Würde entspricht. Das gilt auch für die Frau im Schwangerschaftskonflikt.
gefunden ejz 11.2.17