Die Lüchow-Dannenberger Tauschbewegung „Freier Fluss“ geht neue Wege des Wirtschaftens

Lüchow-Dannenberg ist eine gute Gegend für Pioniere. In der neuen Serie „Anders leben“ stellt die EJZ in loser Folge Menschen vor, die angefangen haben, für ein gutes Leben zu sorgen. Statt zuzusehen, wie Weltmarktkrisen, Ressourcenhunger und Klimawandel um sich greifen, machen sie ihre Arbeit, ihren Konsum und ihre Häuser enkeltauglich. Sie brechen aus dem Gewohnten aus und zeigen, wie Leben und Arbeiten Zukunft haben könnten.

Teil 1: Die Tauschbewegung „Freier Fluss“.

ah Karmitz/Volzendorf. Im Spätsommer füllten die Karmitzer wieder Flaschen im Akkord. Viele Menschen aus Lüchow-Dannenberg brachten Äpfel aus ihren Gärten, von Straßenrändern und Streuobstwiesen und nahmen Kostbares mit nach Hause: den Saft ihrer eigenen Äpfel. Dafür zahlten sie am Ende einen fairen Preis.

Die Karmitzer Mosterei ist aber viel mehr als ein kleiner Ökobetrieb. Aus den Karotten, der Roten Beete und den Pastinaken der Karmitzer Kommune und den Äpfeln der Volzendorfer Kommune „Aufbruchlandung“ pressen Jonas, Peter und die anderen Helfer einen Saft, der keinen Preis hat. Sie schreiben weder ihre Stunden auf, noch rechnen sie später den Saftanteil für die Volzendorfer aus. In Volzendorf ist das nicht anders. „Als wir im März eingezogen sind, haben wir mit der Hilfe und den Geräten der anderen ruckzuck das Haus renoviert“, erzählt Bascha von einer der beiden Kommunen in Volzendorf, während sie Tomaten für die Freitagspizza der Nachbarkommune einkocht.

Unter den hiesigen Kommunen ist ein Wirtschaften ohne Geld und ohne Gegenwert möglich, im Grunde so wie es früher üblich war – unter den Bauern, den Handwerkern und den anderen Dorfbewohnern. „Wie hoch soll die Rechnung sein?“ – „Warum soll alles untereinander verrechnet werden?“ Auf Fragen wie diese wussten die Kommunarden, wie sich die Bewohner nennen, immer seltener eine plausible Antwort. Bis einige schließlich ganz aufhörten, sich Geld hin und her zu schieben. Sie nennen es den Freien Fluss.

Sie lassen ihre Arbeit, ihre Dienstleistungen, ihr Wissen und ihre Produkte frei fließen. Neben der Kommune Karmitz und den beiden Volzendorfer Kommunen gehören auch der Gasthof Meuchefitz, die Kommune Krumme Eiche in Krummasel, die Güstritzer Kommune „Leinen los“ und die Kommune Kommurage in Meuchefitz dazu. Zusammen bilden sie das regionale Netzwerk Interkomm. Hinter ihnen stehen etwa 70 Menschen, die sich auf das soziale Experiment eingelassen haben.

Seit es Kommunen im Kreisgebiet gibt – die ersten entstanden Mitte der 1970er-Jahre – steht eine gemeinsame Ökonomie auf ihrer Agenda. Schon bevor sie den „Freien Fluss“ ins Leben riefen, gab es einen geldfreien Tausch. Doch was sich heute im Freien Fluss abspielt, hebt ein neues Wirtschaften aus der Taufe. Es widersetzt sich dem Credo „Ich verkaufe und kaufe, also bin ich“.

Es ist viel mehr als Saft im Spiel. Die Kommunarden helfen sich bei Baustellen auf dem eigenen Hof oder beim Pizzabacken während der Kulturellen Landpartie (KLP), sie pulen Erbsen und machen Kneipendienst. Die einen kochen im Gasthof, die anderen schlagen Holz im Wald. Sie reparieren Autos und Computer und teilen ihr Wissen über die Vereinsbuchführung. Baumpfleger sorgen für einen professionellen Obstbaumschnitt und die Heilpraktikerin behandelt Rückenleiden. Auf dem Frühstücksteller von Hans Wenk, Bewohner der Kommune Kommurage in Meuchefitz, liegen zwei Scheiben Brot, das in Karmitz gebacken wurde. Jeden Donnerstag wird eine Brotladung in den Gasthof Meuchefitz geliefert, um sie an die Kommunen zu verteilen. Vom Acker der Kommune Güstritz stammt die Rote Beete in Wenks Apfel-Gemüse-Saft, natürlich gepresst in Karmitz. „Am Donnerstag gehen wir in den Gasthof zum Essen und Trinken, mal wird bezahlt, mal wird umsonst genossen. Das bleibt die Entscheidung von jeder und jedem“, sagt Wenk.

„Es wäre ja auch denkbar, dass wir uns zumindest an Kosten wie zum Beispiel für das Mehl beim Brotbacken beteiligen. Aber wir schreiben keine Arbeitsstunden auf, wir halten nicht fest, wie viele Produkte jede Kommune verbraucht, und es fließt auch kein Geld“, sagt der 62-jährige Betriebswirt, der für Fahrten nach Berlin ein Auto der Karmitzer leiht, auf deren Tankkarte volltankt, seine Sachen in Berlin erledigt und ein paar Kisten Saft ausliefert. „Plötzlich bin ich ein Teil der Karmitzer Alltagsökonomie, ich bezahle mit „ihrem“ Geld. Wir reden gar nicht darüber“, stellt er fest. Die Schenkerei mache „gefühlt die Hälfte“ seines Konsums aus, sagt er. Immer öfter ist er ohne Portemonnaie in Lüchow-Dannenberg unterwegs.

Zwei Dutzend Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet sind vor einiger Zeit zu Wenks Workshop in das kleine Zelt hinter dem Meuchefitzer Gasthof gekommen. Die meisten leben selbst in Gemeinschaften, viele berichten – im Rahmen des „Rebellischen Zusammentreffens“ – von enttäuschenden Erlebnissen, etwa als sie gemeinsame Kasse machten und sich fortan dabei erwischten, dem einen den Kurs oder der anderen das extravagante Kleid nicht mehr zu gönnen. Wenk erzählt: Beim „Freien Fluss“ folgen sie keinem bestimmten Konzept. Sie geben das, was sie im Überfluss haben. Das Prinzip ist denkbar einfach, aber doch ungewöhnlich: „Was ich brauche, ist entkoppelt von dem, was ich rein tue“, sagt er.

Auch unter den Kommunarden gibt es immer mal ein schlechtes Gewissen, Gemüse zu essen und dafür nicht auf dem Acker mitgeholfen zu haben. Und ganz ohne Planung geht es auch nicht. Die Güstritzer Gemüseanbauerinnen bedenken den Verbrauch in den Kommunen, die benötigte Brotmenge wird bestellt, der Saftbedarf abgefragt. Zur besseren Koordination gibt es eine Habe-Brauche-Liste und monatliche Treffen des Netzwerks Interkomm.

Fast alles passiert offline. Man greift zum Telefon, wenn Bohnen geerntet werden können, fragt, welche Kommune Bedarf hat und organisiert das Einmachen. Die meisten gehen zumindest zeitweise noch einer bezahlten Arbeit nach, sind auf diese Weise kranken- und rentenversichert. Doch einen Vollzeitjob hat in den Kommunen fast niemand mehr. Das Vertrauen zwischen den Kommunen ist offenbar groß und über Jahre gewachsen. Der „Freie Fluss“ ist zu einem stabilen System des Miteinander-Wirtschaftens geworden.

Dass Hans Wenk all das erzählt, hat mit dem vorsichtigen Versuch zu tun, den „Freien Fluss“ auch jenseits der Kommunen zu öffnen. Einige wünschen sich „aus dem Inseldasein herauszukommen“ und zumindest in einer Region wie Lüchow-Dannenberg ein anderes Wirtschaften möglich zu machen. Seit einiger Zeit ist auch die Schwiepker Dorfgemeinschaft (EJZ berichtete) mit von der Partie. An Interessierten mangelt es nicht, immer wieder wollen auch Einzelpersonen beim „Freien Fluss“ mitmachen. Die Zusammenarbeit steht und fällt mit dem gemeinsamen Werteverständnis.

Die Kommunarden sind Teil des bundesweiten Netzwerks Kommuja, in dem sich etwa 30 Kommunen auf grundlegende Prinzipien des Zusammenlebens geeinigt haben. „Wir wollen ein gleichberechtigtes Miteinander, Machtstrukturen lehnen wir ab. Wir wollen die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und uns vom herrschenden Verrechnungs- und Besitzstandsdenken lösen.“ So heißt es im gemeinsamen Statut. „In der Kommune leben wir das im Alltag. Das schafft Vertrauen, damit wir nach diesen Prinzipien auch über die eigene Kommune hinaus so arbeiten und leben können“, sagt eine Karmitzer Kommunardin.

Im „Freien Fluss“ geht es nicht darum, ein paar Kürbisse zu verschenken, sondern eine andere, verlässliche Versorgungsstruktur in der Region aufzubauen – in einer Zeit, in der der Leistungsdruck immer höher wird, der Lohn trotzdem vielen nicht zum Leben reicht, Saatgut patentiert und mit Nahrungsmitteln spekuliert wird. Dorfgemeinschaften oder anderen informellen Gruppen, die dieses Grundverständnis teilen, stehen die Kommunarden offen gegenüber. „Wir wollten nicht einfach nur eine Kommune auf dem Lande gründen“, erzählt Bascha aus Volzendorf, „sondern wir sind auch ins Wendland gekommen, weil es hier den „Freien Fluss“ gibt. Der erleichtert uns das Leben sehr.“

Die Volkswirtin und Historikerin Friederike Habermann (Foto) erforscht seit den 90er-Jahren in Umsonstläden, Offenen Werkstätten, Ökodörfern und Guerilla-Gärten, wie ein ökologisch-solidarisches Wirtschaften aussieht. Kürzlich war sie zu Gast beim Rebellischen Zusammentreffen im Gasthof Meuchefitz, wo es auch um den „Freien Fluss“ ging. Mit der Journalistin Anja Humburg sprach sie darüber.

EJZ: Vor 20 Jahren waren Sie bei einem der ersten globalisierungskritischen Treffen in Mexiko dabei. Ist die Idee von Solidarität und Rebellion in Lüchow-Dannenberg real geworden?

Friederike Habermann: Die Idee ist damals schon sehr real geworden, weil daraus die Globalisierungsbewegung entstand und eine weltweite Vernetzung emanzipatorischer Gruppen begann, wie es sie bis dahin nicht gegeben hatte. Aber auch hier im Wendland bin ich wieder sehr vom solidarischen Miteinander beeindruckt.

In Ihrem Buch „Halbinseln gegen den Strom“ stellen Sie viele Projekte vor, die zeigen, wie es sich anders leben und wirtschaften lässt. Was macht der „Freie Fluss“ anders als das verbreitete Wirtschaftssystem?

Der „Freie Fluss“ ist eine Vernetzung von Kommunen, die sich untereinander völlig ohne Tauschlogik austauschen. Da wird weder Geld noch Zeit gegengerechnet. Das entspricht einer neuen Tendenz, die sich in vielen Projekten abzeichnet, sich aber oft unterschiedlich ausgestaltet: Die Projekte nichtkommerziellen Lebens stellen ihre Produkte oder Dienstleistungen schlichtweg allen zur Verfügung. Solidarische Landwirtschaft zum Beispiel versucht, die finanzielle Absicherung der dort Tätigen möglichst unabhängig davon zu garantieren, was konkret von den Konsumierenden entnommen wird. Doch die Richtung in alledem ist deutlich: Es geht um Besitz statt Eigentum, also darum, wer was braucht, nicht wer was hat – das ist das Prinzip von Commons. Und es geht ums Beitragen statt ums Tauschen, das heißt Menschen werden tätig, weil sie es wollen. Mit diesen Prinzipien lässt sich sogar gesamtgesellschaftlich wirtschaften. Ich nenne das Ecommony.

Gibt es auch Schwierigkeiten?

Im gegebenen System leiden die Projekte nichtkommerziellen Lebens an der mangelnden Gegenseitigkeit. Es fehlt, in ähnlichem Ausmaß auf von anderen bereitgestellte Ressourcen zugreifen zu können. Gleichzeitig sind auch die Nehmenden manchmal überfordert. Sie sehen keinen Weg, irgendwie, irgendwann, irgendwas zurückzugeben, das nicht Geld wäre.

In welche Richtung könnte sich das Netzwerk der Schenkenden weiterentwickeln?

Es macht Sinn, verschiedene Wege zur Ecommony zu gehen, die einen offener, die anderen verbindlicher. Und zu lernen.

gefunden: ejz (13.12.2016)