Bericht von der Berliner Großdemonstration der Regierungskritiker*innen und Coronaleugner*innen

03/08/2020Keine Kommentare04-Texte, Arbeit, Kapitalis-mus-s, Nationalismus, Politik, Rassismus, Repression

Bericht von der Berliner Großdemonstration der Regierungskritiker*innen und Coronaleugner*innen mit einigen aktivistischen und soziologischen Überlegungen. Von Gerhard Hanloser

Veröffentlicht von Lola-läuft

Bericht von der Berliner Großdemonstration der Regierungskritiker*innen und Coronaleugner*innen mit einigen aktivistischen und soziologischen Überlegungen

Von Gerhard Hanloser

In Berlin kam am 1. August 2020 zusammen, was sich sonst als regionales Phänomen recht unterschiedlich präsentierte: ein öffentlich sichtbares neues politisches Milieu, das sich selbst gerne als „Querdenker“ oder „Coronarebellen“ bezeichnet, und aus verschiedenen Gründen mit den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung nicht einverstanden ist. Betrachtet man politische Aussagen, habituelle Demonstrationsperformanz und den politischen Hintergrund der Demonstrierenden, sowie etwaige politische Ideologien oder Denkströmungen, die hier wirksam werden, dann hat man den Eindruck, dass man es mit dem schillernden Zerfall des Politischen zu tun hat. Hier passt nichts zusammen: wenn sich die Demonstrierenden auf einen Gesellschaftsentwurf einigen müssten, wäre heilloses Hauen-und-Stechen angesagt. Wenn das Wesen des Politischen allerdings die Freund-Feind-Unterscheidung ist, dann folgt diese Bewegung der Logik des Politischen. Der Feind ist klar: die Regierung, personifiziert in Angela Merkel. Dem gesellt sich das aus der antimigrantischen und rechten Pegida-Bewegung bekannte Feindbild der „Lügenpresse“ hinzu und der Zweifel an, bis Hass gegenüber einer als Expertokratie empfundenen Medizinerschicht, die dank der Coronakrise eine neue gesellschaftliche Bedeutung erhalten hat, wie dem Virologen Drosten der Charité oder dem Robert-Koch-Institut. Bei sehr vielen Demonstrierenden spielt eine ablehnende Haltung gegenüber dem Impfen und die Furcht vor einer Impfpflicht eine große Rolle, ein kleinerer Teil der Aktivist*innen sieht verschwörerische Kräfte nicht nur in der Corona-Krise, sondern als generelle gesellschaftliche Grundsituation am Werk, die von Bill Gates bis zu einer ominösen „New World Order“ reichen würde. Von pathologischen Verschwörungsgepeinigten reicht dies bis zu Akteur*innen in einem gut am Bedarf nach Verschwörungsideologien verdienenden Marktsegment.

Teilnehmerin an der Demonstration der !quer!denker! in Berlin am 1.8.2020

In einem Aufruf zur Demonstration war von der gebotenen Verhinderung einer „kommunistischen Diktatur“ unter Angela Merkel die Rede, einer der vielen Irrsinnsmomente, die in der Bewegung nicht nur toleriert Platz finden können, sondern sie im Kern ausmachen. Eine solche Anklage ist kein Sonderphänomen der Protestierenden in Deutschland: Bereits während der Pro-Trumpistischen Tea-Party-Bewegung wurde Obamas staatliches Care-Programm als „Comunism“ abgelehnt und auch in der sehr rechts ausgerichteten spanischen Bewegung gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung, finden sich überdrehte antikommunistische Anklagen gegen die Regierung Pedro Sánchez. Dies zeigt eine bereits in der Grundanlage antikommunistische Prägung der Bewegung, in der klassische bundesdeutsche Wohlstandsbürger (beispielsweise aus Stuttgart) das Sagen haben, die bislang ihre Energie eher im Kleintierzüchterverein verausgabt haben, und ostdeutsche Wende-Irritierte (das Pegida-Milieu) ihren rebellischen Platz einnehmen.

Neben „Wir sind das Volk“ ist eine der beliebtesten Parolen auf der Berlin-Demo „Freiheit“. Nicht wenige Demonstrierende wähnen sich in einer Diktatur, tolerieren aber jene, die ganz offen bekunden, eine autoritäre Herrschaft, ein Reich oder anderes, anzustreben.

I.

Ich komme Unter den Linden an. Der Demonstrationszug formiert sich. Normaler könnten die Leute, die hier zusammen kommen nicht aussehen. Es ist fast alles dabei: klassische Familien mit Kindern bei sich, der jugendliche Hippie, den man auch auf einer Goa-Party der 90er Jahre hätte treffen können, ein Vierzigjähiger trägt sogar ein „Minor Threat“-T-Shirt, musikalische Helden meiner Jugend. Ansonsten alles sehr bürgerlich, allerdings ästhetisch ärmlich. Mittvierziger mit Sandalen und komischen Hosen, Pegida-Style. Ich falle kaum auf. Mit einem an Pierre Bourdieu geschulten Blick könnte man sagen, dass hier ein Milieu dominierend unterwegs ist, das offensichtlich wenig Zugriffsmöglichkeiten darauf hat, sich ästhetisch den Anschein von Hipness oder modischer Avanciertheit zu geben. Das kulturelle und besonders ästhetische Kapital ist gering. Der Demonstrationszug erscheint mir von der sozialen Zusammensetzung der Gelbwestenbewegung in Frankreich ähnlich zu sein. Was allerdings auffällt ist die rein weiße und sehr deutsch-kartofflige Zusammensetzung der „Corona-Rebellen“.

II.

Aus diesem sozialen Rahmen proletarisierter Kleinbürger*innen fallen allerdings die „Friedenfahrzeuge“ heraus, die den Umzug prominent begleiten. Diese verweisen auf ein finanziell besser gestelltes bürgerliches Milieu. Ursprünglich hatte das Ehepaar Christian und Silke Volgmann, Werbetechniker aus Greifswald, die Idee. Diese konnte sich offensichtlich fast in der gesamten Republik verbreiten. In Hamburg hatte ein Unternehmer mehrere Autos seines Fuhrparks entsprechend als „Friedensfahrzeug“ umgestaltet. Frieden muss sexy werden, propagieren die Volgmanns, Kurt Tucholsky-Sprüche zieren ihre professionellen Werbeflyer. „Frieden mit Russland“ steht im Mittelpunkt, eine Parole, die auch auf vielen T-Shirts steht und die die Mahnwachen-Szene prägte. Im Internet werden Interessierte aufgefordert, ihre Autos ebenfalls im einheitlichen Design zu folieren. Kosten trägt man in Form einer Spende. Die automobilen „Friedensbotschafter“ kommen im Polizeidesign daher. Auf der Berlin-Demo baumelten aus einigen der zahlreichen Wagen Ballons mit dem alten 80er-Jahre-Friedenstauben-Symbol, nur dass die Autos und wohl auch die Gedankenwelt der Fahrzeughalter*innen andere sein dürften. War das Friedensbewegungsmilieu der 80er eher skeptisch gegenüber der Automobilgesellschaft und – auch wenn aus dem Bürgertum stammend – antibourgeoise, ökologisch und tendenziell staatskritisch eingestellt, so sind die heutigen Friedensfahrzeugbetreiber autobegeistert, gutbürgerlich und affirmieren die polizeiliche Exekutive, der sie sich bereits in ihrem Design anbiedern und angleichen wollen.

Dies passt zu der von den Veranstalter*innen auf der Samstagsdemo bekundeten Haltung zur Polizei. Sie signalisierte eine hohe Bereitschaft, mit der Polizei zu kooperieren, diese sei nicht der Feind, auch hier gäbe es Maulkörbe, die aber jeder Zeit fallen könnten. Neben empörten „Pfui!“-Rufen, wenn Polizisten auftauchen, sind vermehrt Rufe in Richtung Polizei zu vernehmen mit der Aufforderung „Schließt euch an!“. Vor dem Hintergrund eines hohen Anteils von rechten Strukturen innerhalb der deutschen Polizei wundert diese Affinität nicht.

III.

Ich gerate zufällig in eine Situation, in der zwei türkische Kommunisten am Rand der Demo, die sie offensichtlich kritisch und agitatorisch begleiten, in einem Streit mit einer älteren Frau liegen. „Welche Informationen werden Ihnen denn vorenthalten?“, will der Kommunist laut wissen, die Frau raunt, die Medien seien gleichgeschaltet, Corona sei doch nur eine Grippe, immer wieder Drosten. Sie ist allerdings defensiv. Ich schalte mich ein. Plötzlich bricht aus ihr heraus, sie sei ständige Bibliotheksbesucherin, in ihrer Heimatstadt wäre diese ewig geschlossen gewesen. Ich erinnere mich daran, dass die Freundin eines Freundes als Bibliotheksangestellte auch davon berichtete, dass es gut zwei Dutzend quasi wohnungslose Bibliotheksbesucher gebe, die die Schließung des Bibliotheken während des Lockdowns schwer traf. Hinter den offiziellen Sprachmodulen der Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen liegen also bei den Teilnehmer*innen der Demonstration ganz unterschiedliche soziale Erfahrungen und Realitäten.

IV.

Zwei Frauen haben auf ihre Maske „Höhere Löhne“ gemalt.

Ich spreche sie an, erkläre ihnen, dass sie die einzige sinnvolle und vernünftige Parole, die ich gesehen habe, ausgeben. Sie freuen sich. Die eine erklärt: „Ja, denn nur so kommt unsere Gesellschaft wieder voran und so bekommen wir einen Aufschwung hin.“ Ich freue mich nicht. Denn diese Antwort verweist darauf, dass auch die beidem im falschen Wir eines ominösen Gesamtinteresses agieren und nicht als selbstbewusste Arbeiterinnen, die ihr Klasseninteresse durchsetzen wollen. Nicht nur der Marxismus, auch jede kämpferisch-gewerkschaftliche Haltung ist vollkommen abwesend.

Immer wieder sehe ich allerdings einzelne Leute, die in vergangenen Zeiten bei linken Demonstrationen hätten dabei sein können, vielleicht waren sie es auch. Die radikale Linke ist natürlich abwesend. Das Heer an linken Parteien, von Die Linke über die DKP bis zur MLPD, auch. Keine einzige linke Parteifahne. Hier mal ein Vereinzelter, der vielleicht Anfang der 90er Jahre in einer alternativen Wagenburg hätte sitzen können, er trägt das T-Shirt „Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“, doch solche Leute gehen unter in der breiten Masse von Leuten, die man umgangssprachlich „Normalos“ nennen könnte.

V.

Zwei, drei Wagen sind der jugendlichen Partysubkultur zuzurechnen. Ein Wagen trägt Aufschriften des Techno Kollektivs Nürnberg, ein anderer hat als Symbol ein verschlungenes Herz und ein Peace-Zeichen, eine Gruppe namens Freedom-Parade agitiert gegen Masken- und Impfpflicht. Darüber ist ein durchgestrichenes Hakenkreuz zu sehen. Und auch bei einem Wagen, der sich für die freie Wahl des Urlaubs („Free Vacation Decission“), prangert in buntem Rot-Gelb-Grün REGGAE GEGEN RECHTS an der Seite des Wagens.

Später tanzten zwei splitternacke Hippies, die mich an Leute aus der „fuck for forest“-Szene erinnern, eine eher schwarz gekleidete Gruppe von mittelalterlichen Männern an, die eine gigantische schwarz-weiß-rote Reichsfahne tragen, eine von etwa zwölf Fahnen, die ich auf der Demo gesichtet habe. Die Reaktion: Lachen auf beiden Seiten, große Verbrüderung der hippiesken Nacken mit den Reichsbürgern. Der Ansager aus dem Lautsprecherwagen des leitenden Demonstrationswagens hatte bereits davor und zum Auftakt auf die Kaiserreichsfahnen aufmerksam gemacht: „Wir sehen hier einige Reichsfahnen. Das wird für die Presse wieder ein Anlass sein, von Rechten, Verschwörungsideologen und Antisemiten auf der Demo zu sprechen. Aber wir lassen uns nicht spalten. Die wahren Faschisten sitzen in der Regierung.“ Überschnappende Stimme. Applaus. Das ist nicht nur keine Distanzierung, das ist der bewusste Aufruf zum Bündnis mit Rechten.

VI.

Mitten in der Demo läuft eine Gruppe älterer Frauen – sie könnten auch als „Omas gegen Rechts“ am Rand der Demo stehen und gegen die Demo anpfeifen, doch sie sehen offensichtlich in den Corona-Maßnahmen der Einschränkung von Grundrechten eine Gefahr, die eine Beteiligung nahelegt. So sind sie Teil der Demo. Auf ihrem, den ganzen Straßenzug einnehmenden Transparent steht: „Nie wieder Krieg, Faschismus und Diktatur“, „Hier keine Bühne für AFD, PEGIDA, Nazis“ „Gib Rassismus keine Chance“ und: „Wer in der Coronakrise schläft, wird in der Diktatur aufwachen“.

Hinter und vor ihnen ist eine Lücke, sie wirken mit ihrer klaren Abgrenzung nach rechts wie ein Fremdkörper.

VII.

Einen dicklichen, stark alkoholisierten Reichsflaggenträger spreche ich naiv an: Wofür steht die Fahne? „Fürs Kaiserreich!“ „Und da zurück willst du hin?“ „Ist doch besser als das, was wir jetzt haben“, erklärt er kumpelhaft und zieht lachend weiter. Davor hatte er genauso lachend lustigen Kontakt mit Demoteilnehmer, die längere Haare haben und Heavy Metal-T-Shirts tragen. Wenige Minuten später erblicke ich zwei 30jährige mit Button der Identitären. Bereits zu Beginn der Demo waren stark tätowierte Nazi-Rocker mit Familienanhang zu erblicken.

VIII.

Der fast nur massenpsychologisch zu erklärende irrationale Hass auf die „Lügenpresse“ ist entkoppelt von jeder tatsächlich angebrachten Kritik an der Macht der Medien und der Bewusstseinsindustrie.

Die Presse (tagesschau, heute journal, Printmedien) berichtete im Großen und Ganzen fair, differenziert und ausgiebig über die Demonstration. Einzig bei der Einschätzung der Teilnehmerzahl orientierte sie sich zu stark an der Polizeiangabe. Auf pejorative Marker und Verallgemeinerungen wie „Querfront“ oder „Verschwörungsideologen“ (deren Vertreter als einzelne sicherlich anwesend waren) wurde mittlerweile verzichtet. Sicherlich wurde die Anzahl anwesender Rechter stark betont, aber es kamen auch vollkommen „normale“ Demonstrant*innen zu Wort. Die gegebene Heterogenität der Demonstration wurde klar benannt. Auch der breite normal-bürgerliche Bauch der Demonstration wurde in den Medienberichten sichtbar und in den präsentierten Bildern eingefangen. Das war in der Vergangenheit durchaus anders, wo in Medienberichten gerne von „Extremisten“ gesprochen wurde.

IX.

Eine Beobachtung auf der Demo belastet mich, weil sie schwer kommunizierbar ist. Viele Menschen, die sich hier zusammen finden, wirken psychisch tangiert. Abgesehen von den wenigen, die wohl tatsächlich im klinischen Sinn ver-rückt sind, meine ich, bei vielen Demo-Besucher*innen ein sichtbares Leiden erkennen zu können. Ich weiß, dass das anmaßend klingt. Aber es gab im Zuge von 1968 ein Wissen auf Seiten der Linken, dass der Kapitalismus zerstörte Zwischenmenschlichkeit bedeutet. Im Zentrum der Kritik der modernen kapitalistischen Gesellschaft stand in Anschluss an die Kritische Theorie die Beobachtung, dass diese Verhältnisse die Menschen zu deformierten Individuen macht. Die Psychoanalyse als kritische Wissenschaft könnte hier Aufklärung liefern. Bestimmte Alltagserfahrungen sind tabuisiert. Verletzungen und Kränkungen nehmen im neoliberal verhärteten Kapitalismus zu. Wo das Ich souverän regieren, die überfordernden Verhältnisse meistern soll und der Einzelne auf sich zurückgeworfen ist, sucht er ein Wir. Identität lässt sich nur über Alteritäten scheinbar festigen. Tatsächlich ist der Anteil derjenigen unter dem Demonstrierenden, die ein Liebesbedürfnis artikulieren (die Massierung an Herzchen und Liebesbekundungen reichte an Woodstock und die Loveparade heran) und gleichzeitig eine unbändige Wut und einen Hass in sich tragen und diesen auch bekunden und sich Objekte ihrer Aggressionen schaffen (Regierung, Lügenpresse, Bill Gates, Drosten), erschreckend hoch. Einige aus der Linken kommende Psychologen und Psychoanalytiker haben es verpasst, auf dieses artikulierte Leid in der Bewegung zu reflektieren, gegebenenfalls gesellschaftlich-politisch auch darauf einzugehen. Sie haben sich zuweilen selbst zu Lautsprechern dieser Menschen und ihrem Leiden gemacht und ihr Gestammel nur notdürftig intellektuell aufgebürstet und sich zu eigen gemacht.

Ein, zwei eher intellektuelle Alt-Linke sind auch auf der Demo gut zu erkennen: Einer schiebt sein Fahrrad und hat den Satz von Hannah Arendt „Niemand hat das Recht zu gehorchen“ auf ein Schild gemalt. Ein anderer hält das Schild hoch „Der Hobbes’sche Leviathan wird gefüttert durch unnötiges Tragen von Masken! Diese Nebenwirkung der Maske ist den meisten Benutzern unbekannt.“ Derart und an diesem Platz verkehrt sich Aufklärungsimpetus in Gegenaufklärung.

X.

Zu guter Letzt ein Wort an die und zur Linken. Sie war am 1. August nicht vorhanden.

Die paar Gegendemonstranten von den „Omas gegen rechts“ und andere, hatten angesichts der Masse an Demonstrierenden kein Gewicht. Innerhalb der Demo gab es, von den erwähnten marginalen Anti-Nazi-Bekundungen abgesehen, keine einzige kritische oder provokante Aktion, weder Kritik im Handgemenge noch der Versuch der Aufklärung. Lange Jahre propagierte eine akademische Linke, man müsse mit dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci den Kampf um Hegemonie führen. Heraus kamen vielleicht ein paar schöne oder langweilige Dissertationen, aber keine Aktion und keine Praxis. Der Gramsci-Kult führt zu dem, was der 68er Christian Riechers bereits an der gramscianischen Rede vom „organischen Intellektuellen“ kritisierte: zur Selbstlegitimation einiger linker Akademiker, kleine Karrieren in den Institutionen und bürokratischen Strukturen linker Parteien zu machen, wo sie dann auch ihr Auskommen finden. Die außerinstitutionelle Antifa dahingegen ist außer Stande jenseits einer Politik der generalisierten Feindbestimmung („Querfront“, „Verschwörungsideologie“), die dem Mainstream folgt, als soziale Kraft in eine solche Melange zu wirken, offen für das Andere zu sein, das jenseits des Szene-Milieus mit ihren Codes und Sprachmodulen liegt, und die wirklichen Faschisten anzugreifen und zu isolieren. Dabei wäre dies umso notwendiger, nicht nur weil „Antifa“ mittlerweile nicht mehr nur für Rechte ein Feindbild ist, sondern anderen Demonstrierenden als Synonym für Intoleranz gilt. Tätiger Antifaschismus ist mehr denn je gefragt. Ohne Empathie oder Solidarität mit jenen, die unten stehen, ist er aber nichts wert. Mensch möge sich daran erinnern, dass es auch in der Anfangszeit der Gelbwestenbewegung in Frankreich zu heftigen Auseinandersetzungen kam, denn schließlich war auch diese Bewegung alles andere als politisch klar und rein. Es scheint so, dass dort über die Präsenz von Linksradikalen Rechtsradikale örtlich marginalisiert werden konnten. Abgesehen davon gibt es natürlich auch in Frankreich eine andere plebejische Protestkultur.

In der marxistischen Linken zirkulierten sehr viel richtige Analysen zur Corona-Krise. Die besten davon verstanden es, die Lage der arbeitenden Klassen in Corona-Zeiten analytisch zu fassen. Doch umgesetzt wurde davon nichts und lebensweltlich für andere erfahrbar waren diese Analysen nicht. Dies geschieht auch, weil akademische Linke mit Isolation und Vereinzelung ganz gut umgehen können. Einige radikale Linke zogen sich in die Internetwelt der „Corona-Blogs“ zurück. Oder zum kopfschüttelnden Beobachten des Corona-Irrsinns, wie ich es hier versuche. Wir diskutieren ansonsten über die mögliche Ausgestaltung einer kommunistischen Weltcommune, sind aber zur politischen Intervention in dramatischen und gefährlichen Zeiten nicht fähig. Bestenfalls reicht es zum Protest gegen Räumungen linker Projekte wie zum Beispiel der Kiezkneipe „Syndikat“ in Neukölln. Wenn dies allerdings der Horizont ist, ist jeder Milieu überschreitende, gar gesamtgesellschaftliche Anspruch aufgegeben, was zumindest politisch zu diskutieren wäre.

In der 11. Ausgabe des von Anselm Lenz und anderen herausgegebenen „Demokratischen Widerstands“, der Zeitung der Berliner Initiatoren der „Hygienedemos“, schreibt ein „Jonny Rottweil“ schreibt:

„Die organisierte Linke versagt unter dem Corona-Regime völlig und von ihr wird auch nie mehr etwas Brauchbares kommen“.

Er könnte auf düstere Weise Recht behalten. Allerdings ist der einer Linken „Versagen“ attestierende Hochmut einer Gruppe, die systematisch die Tür für Irrationalismus und Rechtsradikale geöffnet hat, alles andere als angebracht.

Gerhard Hanloser | August 2020

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