Gesichtslose und distanzierte Menschen

Gesichtslose und distanzierte Menschen

Soziale Distanzierung, Reduzierung der Kontakte und das Tragen der Mund-Nasen-Masken haben Auswirkungen, die nur dann realistisch einschätzbar sind, wenn einige zentrale Eigenschaften der Natur des Menschen ausreichend berücksichtigt werden – Teil 1 19.10.2020 10:00 Uhr Von

  • Andreas von Westphalen

I. Eine übersehene Pandemie

„Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Krankheit, die hierzulande immer häufiger auftritt und chronische Schmerzen verursacht – eine ansteckende, von der medizinischen Wissenschaft auch kaum erforschten Krankheit, die sich schneller ausbreitet, als die Immunität gegen sie aufgebaut werden kann, und die als eine der häufigsten Todesursachen in der zivilisierten westlichen Welt eingestuft wird. Eine Krankheit, die das Aufkommen anderer Leiden begünstigt, von Erkältungen über Depressionen und Demenz bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs. Diese Krankheit wäre mithin ein bedeutender Risikofaktor für andere häufige und tödliche Krankheiten. Zugleich wäre sie tückisch, denn viele Betroffenen wüssten gar nicht, dass sie an ihr leiden.“

Angesichts der aktuellen Situation sollte jeder Leser der Antwort seine ganze Aufmerksamkeit schenken, die der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer gibt: „Diese Krankheit gibt es tatsächlich. Ihr Name: Einsamkeit.“

Unterschätzte Gefahr

Sicherlich wird die ein oder der andere Leser an dieser Stelle ungläubig die Nase rümpfen. Zu sehr hat sich die Überzeugung verbreitet, der Mensch sei ein egoistischer Einzelkämpfer, im Kampf jeder gegen jeden ein unternehmerisches Selbst im Dauer-Wettbewerb mit den Mitbewerbern, so dass Einsamkeit eher als natürlicher Zustand und kaum als ein derart gesundheitsgefährdender Zustand angesehen wird. So sehr diese Überzeugung verbreitet sein mag und die Tatsache übersieht, dass der Mensch von seiner Natur aus ein hochsoziales Wesen ist, so sehr erscheint dies auch eine Erklärung, weshalb derzeit eine gesellschaftliche Diskussion über die Gefahr von Einsamkeit und sozialer Isolation kaum stattfindet.

Der Sachbuchautor Johan Hari bringt die Bedeutung von Einsamkeit in seinem Buch „Lost Connections“ prägnant auf den Punkt: „Das Gefühl der Einsamkeit lässt ihren Cortisolspiegel so extrem in die Höhe schnellen, wie einige der beunruhigendsten Dinge, die einem je passieren können. Sich akut einsam zu fühlen, so fand das Experiment heraus, war wie das Erleben eines körperlichen Angriffs. (…) Es ist eine Wiederholung wert. Tief einsam zu sein schien genauso viel Stress zu verursachen wie von einem Fremden geschlagen zu werden.“

Die Psychologin Julianne Holt-Lunstad von der Brigham Young University hat 70 Studien mit 3,4 Millionen Menschen für eine Metastudie zur chronischen Einsamkeit und sozialen Isolation in den USA ausgewertet. Ihre Schlussfolgerungen sind alarmierend:

Einsamkeit ist doppelt so schädlich wie Fettsucht.
Einsamkeit ist genauso schädlich wie 15 Zigaretten am Tag.
Einsamkeit ist genauso schädlich wie Alkoholmissbrauch.

Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob Menschen in einem Singlehaushalt wohnen, mit anderen zusammenleben oder verheiratet sind. Relevant ist letztlich die allgemeine soziale Integration, sprich, wie gut Menschen in ihr soziales Umfeld eingebunden und miteinander vernetzt sind.

Ein abschließendes vielsagendes Beispiel aus der Geschichte: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es nicht unüblich, dass Mütter ihre Kinder in der Regel nur einmal in der Woche einige Minuten lang besuchen durften, wenn diese im Krankenhaus behandelt wurden. Die immer wieder zu beobachtende Konsequenz: Wurden Kinder längere Zeit stationär behandelt, siechten sie an „Hospitalismus“ dahin und starben zuhauf an unspezifischen Infektionen und Magen-Darm-Erkrankungen, die mit ihrer ursprünglichen Erkrankung in keinerlei Zusammenhang standen.

Die Studienlage zu gesundheitsgefährdenden Auswirkungen von Einsamkeit sprechen eine eindeutige Sprache: Auch wenn es dem Menschenbild einiger Zeitgenossen nicht entsprechen mag: Der Mensch ist zweifelsohne ein soziales Wesen. Ein Leben in Einsamkeit, das der Natur des Menschen widerspricht, hat entsprechend gravierende gesundheitsgefährdende Auswirkungen und verkürzt das Leben.

Ausmaß der Einsamkeit

Das Phänomen Einsamkeit hat besorgniserregende Ausmaße. Auch wenn die Studien über Einsamkeit zumeist auf subjektiven Aussagen basieren und somit mit etwas Vorsicht zu genießen sind, sind die Hinweise auf eine Ausbreitung der Einsamkeit zahlreich.

Soziale Isolation ist paradoxerweise gerade in unserer vernetzten modernen Welt zu einem Massenphänomen geworden. Die bereits zitierte Studie von Holt-Lunstad beziffert die Anzahl der US-Amerikaner über 45 Jahre, die an chronischer Einsamkeit leiden, mit sage und schreibe 42,6 Millionen. Jeder Dritte. In Großbritannien spricht man gar von einer „Einsamkeitsepidemie“, insbesondere der älteren Generation. 1,2 Millionen Rentner gelten als „chronisch einsam“. Eine halbe Millionen älterer Menschen verbringt fünf bis sechs Tage in der Woche, ohne einen anderen Menschen zu sehen oder zu sprechen. Als Reaktion auf dieses Massenphänomen hat Großbritannien nun ein Ministerium für Einsamkeit eingerichtet.

Einsamkeit ist aber nicht nur ein gravierendes Problem der älteren Generation. Junge Menschen fühlen sich ebenfalls einsam. In Frankreich leben 700.000 Personen zwischen 15 und 30 Jahren sogar in einer Situation sozialer Isolation. 60 Prozent dieser Menschen kommen sich nutzlos vor. Das entspricht gut sechs Prozent aller Franzosen in dieser Altersgruppe.

Ausbreitung und Ansteckung

Das Phänomen der Einsamkeit breitet sich aus. Julianne Holt-Lunstad betont, die Erfahrung der Einsamkeit der Menschen nehme zu. Bei einer Umfrage geben zudem 11 Prozent der Befragten an, sich einsam zu fühlen. Fast die Hälfte hat den Eindruck, die Einsamkeit nehme derzeit zu. In Deutschland leben zunehmend viele Senioren allein: Bundesweit sind es etwa 40 Prozent der Bevölkerung ab 65 Jahre.

Das Phänomen der Einsamkeit ist nachweislich ansteckend. Zu diesem Ergebnis kam eine aufwendige Studie. Dabei überträgt sich Einsamkeit nicht nur auf den nächsten Freund bzw. Bekannten, sondern auch auf den Freund/Bekannten des Freundes und sogar auf dessen Freund/Bekannten. Die Ansteckung der Einsamkeit kann also bis zu drei Verbindungen im sozialen Netzwerk nachverfolgt werden.

Eine der häufigsten Todesursachen

Einsamkeit ist also nachweisbar stark gesundheitsgefährdend, vergleichbar mit 15 Zigaretten täglich, sie betrifft einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft, ist ansteckend und last but not least eine der häufigsten Todesursachen.

Analysen von Todesursachen sind, wie man spätestens seit der Covid-Krise weiß, ein sehr komplexes Unterfangen. Entscheidend bei der konkreten Einschätzung der Gefährlichkeit von Einsamkeit ist die Fragestellung, wie stark sie die Wahrscheinlichkeit einer gefährlichen oder tödlichen Krankheit erhöht. Tatsächlich beweisen zahlreiche Studien, dass Einsamkeit diese Wahrscheinlichkeit erhöht. Eine Studie, die einen Beobachtungszeitraums von über 30 Jahren hatte, offenbarte, dass das Erkrankungsrisiko für jegliche Krankheit bei Erwachsenen, die in ihrer Kindheit und Jugend einsam waren, um ganze 158 Prozent höher lag, als bei Studienteilnehmern, die nicht an Einsamkeit gelitten hatten.

Daher ist es nicht überraschend: Einsame Menschen haben häufiger einen Herzinfarkt und leiden öfter unter Herzrhythmusstörungen, chronischer Herzschwäche, anderen Herz-Kreislauf-Störungen sowie Bluthochdruck. Einsamkeit vergrößert zudem die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Erkrankung, von Demenz, Paranoia, Selbstmord und Alkoholismus.

Es kann kaum überraschen, dass Einsamkeit und besonders natürlich soziale Isolation auch die Wahrscheinlichkeit tödlicher Erkrankungen sehr stark erhöht, zum Beispiel steigt die Wahrscheinlichkeit an Krebs zu sterben bei sozialer Isolation um ein ganzes Viertel.

Eine breitangelegte Studie über einen Beobachtungszeitraum von neun Jahren kam zu dem Schluss, dass einsame Menschen in diesem Zeitraum mit einer ungefähr dreimal erhöhten Wahrscheinlichkeit verstarben. Einsame Menschen, die sich gesund ernährten hatten dabei eine höhere Sterbewahrscheinlichkeit als sozial eingebundene Menschen mit ungesundem Lebensstil.

Die bereits zitierte Metastudie von Holt-Lunstad, die 148 Studien mit mehr als 300.000 Probanden umfasst, untersuchte den Zusammenhang verschiedener Ursachen (Alkohol, Rauchen, soziale Isolation, Bluthochdruck etc.) auf die Mortalität. Das Ergebnis ist eindeutig: Wer weitgehend sozial isoliert lebt, hat ein doppelt bis dreifaches Risiko, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu versterben. Einsamkeit (soziale Isolation) war damit mit Abstand die Ursache, die den stärksten Einfluss auf die Mortalität hatte. Es ist daher nicht weit hergeholt, Einsamkeit vielleicht sogar als Todesursache Nummer 1 zu bezeichnen.

Einsamkeit kann und darf man angesichts der Faktenlage keinesfalls einfach als einen eher unangenehmen Zustand abtun, der mit einem kleinen Spaziergang unter Menschen wieder vollständig beseitigt ist. Einsamkeit ist eine Todesursache, die – darin sind sich alle Forscher einig – mindestens in der gleichen Liga spielt wie starker Alkohol- oder Nikotinkonsum oder starkes Übergewicht.

Angesichts der aktuellen Krise sollte es auf der Hand liegen, das Phänomen Einsamkeit sehr ernst zu nehmen und möglichst schnell eine wissenschaftliche Einschätzung zu erhalten, die das Ausmaß der gegenwärtigen Einsamkeit und sozialen Isolation erfasst. Dass eine derartige Studie von Seiten der Bundesregierung immer noch nicht in Auftrag gegeben wurde, spricht leider nicht für eine verantwortungsbewusste Politik.

Bevor wir uns der Beschreibung der konkreten gegenwärtigen Probleme zuwenden, ist es notwendig, noch ein anderes Phänomen besser einschätzen zu können, das gerne ebenso achselzuckend negiert wird wie Einsamkeit: Denn der Mensch verfügt von Natur aus über zwei wunderbare Gegenmittel, die tatsächlich Einsamkeit lindern und heilen können. Werfen wir also einen Blick in die „körpereigene Apotheke“ (Martin Grunwald).

Menschliche Nähe

Familie, Lebenspartner, Freund, die Erfahrung von Gemeinschaft, ein sicheres soziales Umfeld, kurz: Verbundenheit, das Gefühl des Gegenteils von Einsamkeit, hat nachweisbar sehr starke Heilkräfte, ohne Nebenwirkungen und Patentrechten bei der Pharma-Industrie. Verbundenheit ist das natürliche Ziel des Menschen, wie sich auch bei Betrachtung des sogenannten sozialen Gehirns zeigt. Joachim Bauer, Professor für Psychoneuroimmunologie an der Universität Freiburg, formuliert in diesem Sinne: „Das natürliche Ziel der Motivationssysteme (des sozialen Gehirns A.W.) sind soziale Gemeinschaft und gelingende Beziehungen mit anderen Individuen.“

Begreift man die Natur des sozialen Wesens Mensch, seine Bedürfnisse und die Tatsache, dass Einsamkeit eine dauerhafte Verweigerung dieser Bedürfnisse ist, dann können die nun folgenden Studienergebnisse, die die Effizienz der meisten Medikamente deutlich in den Schatten stellt, nicht überraschen.

Verbundenheit und Gemeinschaft stärkt das Immunsystem:

Menschen mit einem sicheren sozialen Umfeld leiden deutlich seltener an Erkältungen, obwohl die Ansteckungsgefahr durch mehr Kontakt mit mehr Menschen naturgemäß höher ist.

◾ Allein die Zuwendung des Arztes fördert den Heilungsprozess. Die Hälfte der Probanden empfindet nicht nur eine subjektive Besserung, sondern zeigt auch eine signifikante Zunahme der Aktivität der körpereigenen Opioide, die Schmerzen lindern.

◾ Allein die Gegenwart eines vertrauten Menschen senkt die Pulsfrequenz, stärkt das Immunsystem und reduziert Depressionen.

Wunden von Patienten, die sozial eingebunden sind, heilen schneller.

◾ Studien konnten die heilsamen Auswirkungen sozialer Verbundenheit in jedem Lebensalter belegen.

◾ Menschen, die Gemeinschaft erfahren, haben ein gesünderes Herz und ein geringeres Risiko eines Herzinfarkts. Sie erkranken seltener, sogar eine HIV-Infektion verläuft langsamer.

◾ Menschen, die sozial eingebunden leben, haben eine 50 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit eines frühen Todes.

◾ Familie und Freunde halbieren sogar das Sterberisiko in jedem Alter.

◾ Eine großangelegte Metaanalyse ergab für Menschen, die soziale Unterstützung erfahren, ein um 25 Prozent vermindertes Risiko, an Krebs zu sterben. Ein größeres soziales Netzwerk minderte das Risiko immerhin um 20 Prozent. Der Familienstatus „verheiratet“ um 12 Prozent.

◾ Zufriedene und glückliche Menschen mit einem funktionierenden sozialen Umfeld leben im Durchschnitt etwa 15 Prozent länger.

Sehnsucht nach dem Wir-Gefühl

So sehr in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft oftmals auf das Individuum, die Ich-AG, den Einzelkämpfer gesetzt wird und der Homo oeconomicus als Modell dient, so sehr verspüren die meisten Menschen wohl dennoch trotz täglichen Konkurrenzkampfes und Optimierungsdrucks, dass ein glückliches Leben ein Leben in einem lebenswerten sozialen Umfeld ist.

Bei der aktuellen „Vermächtnisstudie“ maßen knapp 80 Prozent dem Wir höchste Bedeutung zu. Jutta Allmendiger, Leiterin der Studie, kommentiert: „Fragt man die Menschen, ob sie es auch den kommenden Generationen ans Herz legen, so ist der Anteil noch höher. Ein Wir zu haben, ist der Kern ihres Vermächtnisses.“

Das Wesen der Liebe „The Nature of Love“ (deutsch: Das Wesen der Liebe) lautete ein Artikel des Ethnologen Harry Harlow aus dem Jahre 1958 zu einem vielbeachteten Experiment. Rhesusaffen-Babys, die nach der Geburt von ihren Müttern getrennt wurden, ließ man in einem Experiment die Wahl zwischen zwei Ersatzmüttern. Eine Eisendrahtkonstruktion, die eine Babyflasche anbot, und ein weiches Stofftier, bei dem es allerdings keine Milch zu holen gab. Die Babys kuschelten sich grundsätzlich an die weiche „Mutter“ und suchten die mechanische Eisendrahtkonstruktion nur dann auf, wenn sie der Hunger trieb. Harlow schlussfolgert: „Der Mensch lebt nicht von Milch allein. Liebe ist ein Gefühl, das nicht auf eine Flasche – oder Brei – angewiesen ist.“

In der kostenfreien, körpereigenen Hausapotheke findet sich noch ein weiteres erstaunlich effizientes und angenehmes Medikament: Berührungen.

Erste Sprache des Menschen

„Berührung ist die erste Sprache, die wir sprechen. Aber darüber ist noch viel zu wenig bekannt“, so das Motto der Leiterin des vor wenigen Jahren in Miami eröffneten Touch-Institut, in dem die Auswirkungen von Berührungen erforscht werden.

Ähnlich sieht es auch Martin Grunwald, Gründer und Leiter des Haptik-Forschungslabors an der Universität Leizpig: Das sogenannte Tastsinnessystem ist „das biologisch größte und einflussreichste Sinnessystem, eine Meisterleistung der Natur – und zugleich eine Selbstverständlichkeit, die wir kaum würdigen.“ Tatsächlich ist der Tastsinn nicht nur der erste Sinn des Menschen, der sich bereits im Mutterleib ausbildet, sondern auch der letzte, der selbst unmittelbar vor dem Tod noch schwach vorhanden ist.

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Die lebenserhaltende und biologische Kraft des nach innen und außen gerichteten Tastsinnessystems beginnt beim Embryo und begleitet unser gesamtes Leben. Jede Berührung unseres Körpers wird biologisch und psychologisch verwertet, ohne dass wir uns zwingend dessen bewusst werden. Martin Grunwald

Berührungen sind daher die erste Sprache, in der das Kind angesprochen und durch die sein Selbstempfinden geweckt wird, wie der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs betont.

Medizin für Babys

Die Bedeutung von Berührungen für Babys kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden:

◾ Frühchen, die eine regelmäßige Massage erhielten, zeigen mit zwölf Monaten bessere kognitive Leistungen als die Vergleichsgruppe.

Bei Neugeborenen sinkt das Schmerzempfinden, wenn sie gestreichelt werden.

◾ Berührungen vermindern Stress und stimulieren von der Geburt an die Entwicklung des Gehirns.

◾ Eine liebevolle Zuwendung der Mutter im Kindesalter schützt später vor einer Überreaktion der Stressgene.

Medizin für Erwachsene

Der gesundheitsfördernde Effekt von Berührungen lässt sich natürlich auch bei Erwachsenen nachweisen:

◾ Eine kurze Umarmung unter Partnern führt zu einer deutlichen Senkung des Blutdrucks und einer Verminderung der Herzfrequenz.

◾ Berührungen stabilisieren das Immunsystem und wirken entzündungshemmend.

◾ Berührungen reduzieren Angst und Stress.

◾ Berührungen reduzieren die Schmerzempfindung.

◾ Wertschätzende Berührungen von Ärzten und Pflegekräften vor einer Operation führen zu einer schnelleren Genesung.

Vermisstes Medikament

Regelmäßig findet etwa die Hälfte der Deutschen bei Umfragen, dass sich die Menschen viel zu wenig umarmen. Und mindestens jeder Dritte äußert zudem den Wunsch, selbst häufiger berührt zu werden.

Wohlgemerkt stammen die Umfragen aus der Zeit vor Covid-19. Werner Bartens fragt zu Recht: „Woher aber sollen alle diese Berührungen kommen, wenn keiner da ist, der einen umarmt oder streichelt, oder wenn der andere dies nur dann tut, wenn es als Vorspiel zum Sex dient?“

Existentieller Widerspruch

Die Natur des sozialen Wesens Mensch wird oftmals von Grund auf missverstanden. Dies dürfte mit ein Grund sein, warum in der hochindividualisierten Leistungsgesellschaft nicht nur das Ausmaß der Einsamkeit deutlich unterschätzt wird, sondern auch die dadurch hervorgerufenen massiven Gesundheitsschäden. Dass zugleich die Medikamente, die der Mensch von seiner Natur aus zur Linderung mitbringt ignoriert werden und wir in einer zunehmend berührungslosen Gesellschaft (Elisabeth von Thadden) leben, rundet den existentiellen Widerspruch der menschengemachten Gesellschaft ab.

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In einer Zeit der pharmakologisch hochgerüsteten Medizinindustrie sollte dieses basale Behandlungsinstrument, das keine schädigende Nebenwirkungen kennt, in stärkerem Maß als bisher genutzt und sollten seine umfangreichen Wirkungen weiter analysiert werden. Martin Grunwald

Inwiefern die aktuellen Schutzmaßnahmen sinnvoll sind, das ist zu betonen, ist nicht Gegenstand dieses Artikels. Aber es sollte keiner näheren Erläuterung bedürfen, warum eine ausführliche Untersuchung von Einsamkeit, Gemeinschaft und Berührungen zwingend notwendig ist, um die Nebenwirkungen der Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Covid-19-Virus besser einordnen zu können. Gerade wer sich an einer Idee der Verhältnismäßigkeit orientieren will, kann nicht einzig auf die Infektionszahlen schauen.

Im zweiten Teil werden wir uns der Auswirkung der Schutzmaßnahmen auf Einsamkeit, Gemeinschaft und Berührungen näher zuwenden.

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Benutzte Bücher:
Allmendinger, Jutta und Wetzel, Jan: Die Vertrauensfrage. Bartens, Werner: Berührung. Bartens, Werner: Empathie. Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Böhme, Rebecca: Human Touch. Grunwald, Martin: Homo Hapticus. Hari, Johan: Lost connections. Keltner, Dacher: Born to be good. Pinker, Steven: Das unbeschriebene Blatt. Ricard, Matthieu: Allumfassende Nächstenliebe. Rosa, Hartmut: Resonanz. Sapolsky, Robert: Gewalt und Mitgefühl. Spitzer, Manfred: Einsamkeit. Thadden, Elisabeth von: Die berührungslose Gesellschaft. Pickett, Kate und Wilkinson, Richard: Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind.

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Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: „Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen“.

Quelle https://www.heise.de/amp/tp/features/Gesichtslose-und-distanzierte-Menschen-4930633.html?__twitter_impression=true