In der Debatte über Polizeigewalt finden nicht alle die richtigen Worte. Und welche sind das überhaupt? Ein Gespräch mit der Germanistin Clara Ervedosa über Racial Profiling. Ein Interview von Mohamed Amjahid 13.07.2020, 18.36 Uhr
Polizeibeamte bei einer Kontrolle (Archivbild) Foto: Paul Zinken/ dpa
SPIEGEL: Frau Ervedosa, Innenminister Horst Seehofer (CSU) hat sich in den vergangenen Tagen mehrfach zum Thema Rassismus in Deutschland geäußert und eine geplante Studie zu Racial Profiling in der Polizei abgesagt. Wie analysieren Sie als Germanistin Seehofers Position?
Ervedosa: Was der Innenminister sagt, ist nicht hilfreich für die aktuelle Rassismus-Debatte in Deutschland. Er polarisiert bewusst. Was Seehofer mit seiner Wortwahl nicht versteht: Racial Profiling ist ein Kernanliegen des freiheitlichen und auf Menschenrechten basierenden Rechtsstaats. Es ist kein Randthema, auch nicht des Polizeirechts, das etwa nur ein paar nicht weiße Menschen in Deutschland betrifft. Untersuchungen und Gerichtsurteile belegen: Racial Profiling ist Alltag in Deutschland und betrifft viele Menschen, die mit der Absage der Studie schlicht ausgeschlossen werden. Seehofer kann dieses Problem nicht einfach verschwinden lassen, indem er sagt, dass es nicht existiert. Zur Person
Clara Ervedosa, Jahrgang 1969, ist Germanistin und beschäftigt sich wissenschaftlich mit diskriminierender Sprache. Sie hat an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel promoviert und arbeitet am Centre for Social Studies an der Universität Coimbra in Portugal. Im Juni 2020 hat sie eine aktuelle Studie zu Racial Profiling in Deutschland veröffentlicht.
SPIEGEL: Hat Sie die Reaktion des Innenministers überrascht?
Ervedosa: Nein. Seehofer hat in der Vergangenheit ähnlich agiert: 2018 hat er zum Beispiel behauptet, „die Migration ist die Mutter aller Probleme“. Damit hat er über zehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund mit einem Satz zu Nicht-Deutschen gemacht. Ob während der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, nach den rassistischen Hetzjagden von Chemnitz und in der aktuellen Debatte rund um Black Lives Matter: Seehofer entscheidet sich immer wieder, mit seinen Worten Menschen bewusst auszuschließen.
SPIEGEL: Was können einzelne Worte und Formulierungen überhaupt über die Denkweise eines Politikers aussagen?
Ervedosa: Sehr viel. Sprache ist das zentrale Instrument, mit dem sich Menschen ausdrücken. Sie beeinflusst unsere Wahrnehmung auf bestimmte Sachverhalte. Worte mobilisieren auch. Sie können heilsam und versöhnend wirken, aber auch wie kleine Arsendosen sein, wie der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer bereits feststellte. Zuerst scheinen sie nicht zu wirken, aber später ist das Gift doch spürbar. Zuerst kommen die Worte, dann die Taten. Wenn in Deutschland über „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Fremdenfeindlichkeit“ anstatt über Rassismus gesprochen wird, sieht es so aus, als ginge es um ein Phänomen, das nur Ausländer und Fremde auf einer privaten Ebene betrifft. Rassismus ist aber ein breiteres und strukturelles Problem – daher kommt es sehr wohl darauf an, welche Wörter wir in so einer Debatte benutzen und wie einige damit Politik machen.
SPIEGEL: Und das können Sie an einzelnen Wörtern festmachen?
Ervedosa: Jeder Begriff trägt eine Geschichte in sich. Indem man diesen Begriff wiederholt, erzählt man immer wieder seine Geschichte mit. Das bedeutet: Ein diskriminierendes Wort reproduziert jedes Mal Diskriminierung. Gutes Beispiel: „Der Südländer“.
Demonstration gegen Rassismus in Augsburg Foto: Michael Eichhammer/ imago images/Michael Eichhammer
SPIEGEL: Sie haben aktuell eine Studie verfasst, die sich genau mit diesem Begriff und seiner Verbindung zum Thema Racial Profiling auseinandersetzt. Warum haben Sie sich auf das Wort „Südländer“ konzentriert?
Ervedosa: Während der Eurokrise tauchte das Wort „Südländer“ sehr häufig auf. Unter anderem deswegen habe ich mir vorgenommen, mich mit dem Begriff als Wissenschaftlerin auseinanderzusetzen, habe mich mit Migration aus diskursanalytischer und soziologischer Sicht beschäftigt und mir zum Beispiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz genauer angeschaut. Für meine aktuelle Studie habe ich Polizeimeldungen vom Jahr 2018 aus dem Presseportal „Blaulicht“ analysiert. Die Meldungen dort bilden sehr gut die Perspektive der Polizei ab. Ein Ergebnis: Die Polizei benutzte in den vergangenen Jahren das Wort „Südländer“ besonders häufig.
SPIEGEL: Wie ist das zu erklären?
Ervedosa: Mit „Südländer“ wird ein bestimmtes Aussehen beschrieben: dunkle Haare, schwarze Augen, nicht weiße Haut. Der Phänotyp eines Menschen wird zum zentralen Kriterium. Und so werden verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlichen Herkünften in einer Gruppe ethnisiert. Darüber hinaus werden mit diesem Begriff bestimmte Vorurteile verknüpft: „Der Südländer“ ist an sich kriminell, impulsiv, ein Frauenheld. Das Wort transportiert nur Stereotype. Mehr zum Thema
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SPIEGEL: Und so wird innerhalb der Polizei gesprochen?
Ervedosa: Es ist gut möglich, dass diese Kategorie innerhalb der Polizei angewandt wird, zumal die Polizei in Köln 2016 zugegeben hat, dass die Kategorie „Nafri“ ein interner Arbeitsbegriff sei. Diese Diktion findet sich in verschiedenen lokalen und regionalen Polizeibehörden – sogar in Stuttgart oder Essen, wo die Gesellschaft jeweils sehr divers aufgestellt ist. Und so wird dementsprechend auch nach außen kommuniziert. Das Wort „Südländer“ tauchte im Jahr 2018 in Polizeimeldungen insgesamt 243-mal auf, das Adjektiv „südländisch“ 459-mal. In einem zweiten Schritt übernehmen viele Medien unkritisch diese Wortwahl.
SPIEGEL: Viele Menschen würden jetzt argumentieren, dass Polizeibehörden damit einfach die entsprechenden Täter beschreiben.
Ervedosa: Hier wird Kriminalität ethnisiert. „Südländer“ ist geografisch gesehen keine akkurate Beschreibung. Wenn Sie Polizisten fragen, was sie mit „südländisch“ konkret meinen, kommt meist keine Antwort. Außerdem sind nicht alle Deutschen blond und haben helle Haut. Auch in Bayern kann man gut beobachten: Deutschland ist ein Einwanderungsland und laut Grundgesetz ist deutsch, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, nicht wer eine bestimmte Hautfarbe hat. Wenn jemand beschrieben werden soll, kann man das präziser machen, indem man seine Haarfarbe, Augenfarbe, seine Körpergröße erwähnt, indem man sagt, ob er zum Beispiel weiße Haut hat.
SPIEGEL: Gibt Ihre Studie eine Antwort auf die Frage nach strukturellem Rassismus in der deutschen Polizei?
Ervedosa: Zumindest was die Sprache angeht, braucht es offensichtlich noch viel Sensibilisierung und Erklärungsarbeit innerhalb der Sicherheitsbehörden. Die Beamtinnen und Beamten müssen lernen, wie man mit Vielfalt umgeht. Der Europarat hat Deutschland mehrmals ermahnt, dass sich die deutsche Polizei unbedingt mit dem Thema Racial Profiling auseinandersetzen muss. Sprache ist dabei nur ein Baustein.
Innenminister Seehofer Foto: Thomas Trutschel/photothek.de/ imago images/photothek
SPIEGEL: Horst Seehofer hat argumentiert, dass Racial Profiling offiziell verboten sei und deshalb kein Bedarf an einer Analyse bestehe.
Ervedosa: Seehofer agiert da unsouverän und parteiisch. Selbst der Bund deutscher Kriminalbeamter hat den Innenminister dafür kritisiert. Es wäre doch nur eine wissenschaftliche Studie mit einem offenen Ergebnis. Objektiv wäre, diese durchzuführen und die Wissenschaftler einfach ihre Arbeit machen zu lassen.
SPIEGEL: Wie müsste so eine Studie aussehen?
Ervedosa: Ich würde mich da an den Handlungsempfehlungen des Europarats orientieren. Eine repräsentative Auswahl von Polizeikontrollen müsste statistisch erhoben und analysiert werden. Auch Gesetze, nach denen sich Polizisten richten, müssen unter die Lupe genommen werden. Nur so können fundiert konkrete Maßnahmen und Investitionen erfolgen, die strukturellen Rassismus in Deutschland effektiv bekämpfen.