Schweinesystem 2.0

Neulich war ich Teil einer Dorfbesetzung im Wendland. Besetzt wurde das Dorf
Steine bzw. das Betriebsgelände des ehemaligen Schlachthofes Vogler Fleisch.
Motto war: Steine wird wieder Dorf!

Was war Vogler Fleisch?
2015 schlachtete Vogler Fleisch / MV Fleisch 2.300.000 Schweine und hatte
damit einen Umsatzrückgang gegenüber von 2014 von 6,1 %. 2016 stellte
Vogler Fleisch einen Antrag auf Planinsolvenz: „Bei einer sogenannten
Planinsolvenz handelt es sich um ein Schutzschirmverfahren, das der Sanierung
des Unternehmens dienen solle.“ Später wurde ein reguläres
Insolvenzverfahren eingeleitet, welches darin mündete: „Die Huarong-Group
Deutschland GmbH, ein Tochterunternehmen eines chinesischen Großinvestors,
soll das Eigentum am Betriebsgelände des ehemaligen Schlachtunternehmers
Vogler Fleisch in Steine aus der Insolvenzmasse gekauft haben. Das berichtet
die Elbe-Jeetzel-Zeitung. Bei dem Kauf sollen nicht nur die Produktionsgebäude,
sondern die auch Verwaltungsgebäude sowie Gebäude im Dorf Steine, in denen
die Personalvermittlungsgesellschaften ihre Mitarbeiter unterbrachten, an den
chinesischen Investor gehen.“ Quelle: www.argrarheute.com

Das Betriebsgelände umfasst zahlreiche Gebäude, die seit 2017
ungenutzt sind. 2020: „Nun hat das Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg eine
Verlängerung der bestehenden Betriebserlaubnis abgelehnt. Die Folge: ein Investor müsste das gesamte Genehmigungsverfahren neu starten. Durch die Entscheidung des Gewerbeaufsichtsamtes in Lüneburg, die Betriebserlaubnis für den Schlachthof in Steine nicht zu verlängern, rückt der Neuaufbau eines Schlachthofes an diesem Standort in weite Ferne. Die Betriebsgenehmigung
ist erloschen. Ein potenzieller Investor müsste eine Genehmigung für den Betrieb eines
Schlachthofes völlig neu beantragen. Zu einem solchen Verfahren gehört neben
der Umweltverträglichkeitsprüfung auch ein Öffentlichkeits-
Betreiligungsverfahren nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz.“ Quelle:
www.wendland-net.de

Wie ist denn aus diesem Dorf überhaupt ein Betriebsgelände für einen
Schlachthof geworden?

Diese Frage interessierte mich und Gespräche mit der Nachbarschaft ergaben,
dass Herr Vogler nach Beendigung des 2. Weltkrieges in der sowjetischen
Besatzungszone aufwachte, sich dort nicht so wohl fühlte und mit Auto,
Tiertransportanhänger sowie Geld von Stendal Richtung Wendland zog. Das
Gebäude der ehemaligen Molkerei war wohl das erste Vogler Fleisch Gebäude
in Steine.
Die Firma wuchs und wuchs und nach und nach kaufte Herr Vogler oder schon
Herr Vogler jr. – das weiß ich nicht genau – ein Haus nach dem anderen in
Steine auf. Teils zu völlig überteuerten, marktunüblichen Preisen, die die
Verkäufer auf dem Immobilienmarkt niemals hätten erzielen können. Wer will
schon neben einem Schlachthof wohnen? Quelle: Originalkaufverträge, die in
der Glitzerverwaltung gefunden worden sind

Na klar, so eine Firma im Wachstum begriffen braucht viel Platz! Für
Verwaltung, für Betrieb und für Arbeiter. Ist doch praktisch, wenn Arbeiter
gleich auf dem Betriebsgelände gehalten werden können. Die Arbeiter waren
auch nicht direkt bei Vogler Fleisch angestellt, so dass man dann mit den
Haltungsbedingungen doch auch nicht mehr so viel zu tun hatte und die Weste
einigermaßen weiß blieb. Und Wachstum ist doch gut. Da profitieren ja auch
noch mehr Menschen von, z. B. die, die direkt oder indirekt für Vogler Fleisch
gearbeitet haben, die, die Schweine geliefert haben, die, die sich über die
schönen Gewerbesteuern gefreut haben etc. pp.

Die Personalvermittlungsgesellschaften
rekrutierten die Arbeiter in den ärmsten
Gebieten Polens. Das kann man einer
Karte im Schlachthofgebäude
entnehmen, wo die Arbeiter ihre
Herkunft mit ihrem Namen markiert
hatten.

Ist-Zustand zum Zeitpunkt der Besetzung

In den idyllischen Fachwerkhäusern im Rundling waren also die polnischen
Arbeiter untergebracht. Es gibt Zimmer ohne Fenster mit Betten. Den langen
Namenslisten an den Häusern kann man entnehmen, dass es sich um zumeist
männlich gelesene Menschen handelte, in einem Haus lebten allerdings auch 3
weiblich gelesene Menschen. Ich vermute, dass diese in den beiden Zimmern
mit den an die Wände geschriebenen polnischen Lied- / Gedichttexten lebten.
In diesen Zimmern gab es ein bisschen „Wohnlichkeit“ in Form von
Blümchengardinen und/oder Deko an den Wänden.
An anderen Wänden in vielen Zimmern bestand die Deko aus mehr oder
weniger pornografischen Bildern von Frauen. Seltener Bilder von muskulösen,
durchtrainierten, braungebrannten Männern. In der zusammengewürfelten
Kücheneinrichtung der Häuser stehen noch Lebensmittel und der Auszug
scheint relativ überstürzt von statten gegangen zu sein.

Mal abgesehen davon, wie klebrig-aggressiv sich die Energie in diesen Häusern
anfühlt, leidet die Bausubstanz unter dem langen Leerstand gerade massiv. In
einem Haus ist vermutlich Schwamm. In einem anderen Haus ist ziemlich
marodiert worden. Es wurden Heizungsrohre und Heizungen sowie
Elektroverkabelung aus den Wänden gerissen. In allen Häusern stürzen
langsam aber sicher die Decken runter, so dass dringender Handlungsbedarf
bestünde, wenn man die Häuser retten wollen würde.Immerhin sind es mit die letzten Fachwerkhäuser des ehemaligen Dorfes
Steine. Ist denn von den Gewerbesteuern noch was übrig?
Außer den von außen idyllischen Fachwerkhäusern gibt es noch das ehemalige
Verwaltungsgebäude, welches unsere Glitzerverwaltung wurde. Luxus pur! In
der Einliegerwohnung gibt es elfenbein-goldfarbene Wasserhähne und eine
Badewanne, in die mindestens 3 Menschen passen. Die anderen 2 Bäder sind
nicht ganz so schick, aber immer noch purer Luxus im Gegensatz zu den
Waschgelegenheiten in den Arbeiterhäusern. Das ganze Verwaltungsgebäude
frisch renoviert. Alle Büroräume gleichmäßig grau-weiß, fast alle mit Glastüren
ausgestattet.
In den Küchen noch Geschirr und auch vereinzelt Lebensmittel.
Es gibt noch ein weiteres, kleineres Verwaltungsgebäude, näher am
eigentlichen Schlachthof gelegen. Auch dieses ist relativ intakt und auch dieses
war wohl mal ein ehemaliges Wohnhaus.
Dann gibt es 2 weitere Wohnhäuser auf der anderen Straßenseite gegenüber
der Glitzerverwaltung. Eines renoviert und quasi bezugsfertig. Mit allem, was
man so braucht. Waschmaschine, Einbauküche, Möbel etc. pp. Das ganze Haus
ist weiß gestrichen und die Möbel waren grau und von Repo. Es handelte sich
zum größten Teil um Ausstellungsstücke, die dann noch mal runter gehandelt
worden sind. Quelle: Preisschilder

Auf den Lehnen der grauen Stühle befinden sich noch die Plastiküberzüge und
auch hier gab es in der Küche noch Lebensmittel. Dieses Haus diente der
Unterbringung der chinesischen Geschäftsführung in Steine. Mich persönlich
hat es erschreckt, dass sich mindestens ein Kind zeitweise in diesem Haus
befunden haben muss. Es gibt keine weiteren Kinder in Steine.
Das andere Wohnhaus befindet sich ebenfalls im beginnenden Verfall durch
den langen Leerstand, wäre aber durch schnelle, einfache Maßnahmen noch
rettbar. Der Außenwasserhahn an diesem Haus tropft unaufhörlich vor sich hin…

Der eigentliche Schlachthof erstreckt sich über mehrere Hallen und man
fühlt förmlich das Grauen. Man kann die Tiere noch riechen.

 

Das Umfeld, der Garten

Dann gibt es noch die Nachbarschaft in Steine – alles sehr nette,
verständnisvolle Menschen und einen leer stehenden Hof von Erwin, der
vermutlich schon zur Firmengründung auf diesem Hof lebte. Erwin ist letztes
Jahr gestorben.
Wir haben einen Kurzfilmabend veranstaltet und beim Schnippeln für die Küfa
erzählte mir eine Nachbarin eine weitere Geschichte. Sie kennt einen Menschen
in der Nachbarschaft, der die Besetzung feiert, leider aber nicht selber kommen
konnte. Als Mensch, der nicht in Deutschland geboren wurde, wurde er laut
Erzählung von Amts wegen gezwungen für Vogler Fleisch zu arbeiten. Teilweise
in 12 Stunden Schichten, fast immer stehend. Heute sitzt er traumatisiert mit
Thrombosen zu Hause.
Bei Spaziergängen durch das Dorf war ich sehr oft wütend. Wütend darüber,
dass mir dort die bestehenden Verhältnisse in diesem Land sehr deutlich vor
Augen geführt werden.
Das Schlachten in Steine hat aufgehört, allerdings gibt es weiterhin eine sehr
zentrierte Fleischindustrie, in denen Arbeiter und Arbeiterinnen unter
unsäglichen Bedingungen ausgebeutet werden. Es gibt industrielle
Schlachtbetriebe, in denen unaussprechliches geschieht, weil viel zu viele
Menschen schweigend mitmachen. Weil diese Menschen in irgendeiner Art und
Weise abhängig von ihrer Arbeit sind.
Ich fand in Steine auch mehrere Gärten. Einmal den von Erwin. Einmal einen
sehr verwunschenen, sehr alten Garten hinter einem Arbeiterhaus und einen
mit dem besten Kirschbaum in ganz Steine. Dort habe ich angefangen, einen
Garten anzulegen. Ein Garten ist für mich persönlich Zukunft.
Schade, dass die Besetzung nur so kurz war. Ich hätte mich gern noch ein
bisschen um den Garten gekümmert. Die Pflanzen direkt in der Erde werden
wohl eine ganze Weile auch ohne Gießen überleben, andere werden wohl nicht
überleben. Und ich hätte noch mehr Pflanzen einzupflanzen gehabt, da ich
momentan kein richtiges zu Hause und damit auch keinen eigenen Garten
habe. Falls sich jemand fragt, warum man an einer Dorfbesetzung teil nimmt.
Aber das ist nur einer von unzähligen Gründen.

 

Mein persönliches Fazit aus der Besetzung ist:
Leerstand besetzen!!! Dem täglich passierenden Unrecht nicht schweigend
zusehen!

Meine Wünsche für Steine sind:

  • Ein buntes Dorf, wo unterschiedlichste Träume und Projekte ausgelebt
    werden können.
  • Rettung der ehemaligen Arbeiterhäuser im Rundling.
  • Errichtung von Denkmälern für die ArbeiterInnen, für die geschlachteten
    Tiere und für die Menschen, die es nicht bis Steine geschafft haben, weil
    unüberwindbare Grenzen sie von Steine trennen und wir sie als
    Humankapital in diesem Land gerade mal nicht brauchen.
  • Einführung von Tempo 50 auf der Landstraße
  • Nutzung des vorhandenen Wohnraums.
  • Einrichten eines Fleisch- / Schlacht- / Unrechts-Museums.