Wie freie Software die Menschen im badischen Bühl begeistert

Für digitale Veränderungen braucht es Menschen, die sie anstoßen. So einer ist Eduard Itrich, der Digitalisierungsbeauftragte der Stadt Bühl. In der Corona-Krise setzte die Stadt eine Videokonferenzplattform für Bürger:innen auf – und begeistert so mit freier Software. Wir haben gefragt, wie Kommunen und freie Software zusammengehen. 15.07.2020 um 10:33 Uhr – Markus Reuter, Bonnie Mehring – in Technologieeine Ergänzung

Postkarte mit Zwetschgen und Kirchturm
Bekannt ist Bühl für seine Zwetschgen. Doch darauf darf man die Stadt in der Ortenau nicht reduzieren. Gemeinfrei unbekannt

Die Stadt Bühl hat für ihre Bürger:innen auf Basis freier Software die Videokonferenzplattform „Palim! Palim!“ gestartet – mit großer Resonanz. Um mehr über die Beziehungen zwischen der Stadt und freier Software zu erfahren, hat die Free Software Foundation Europe ein Interview mit dem Digitalisierungsbeauftragten Eduard Itrich geführt. Der 31-jährige Itrich hat früher als Linux-Softwareentwickler gearbeitet und ist seit Ende 2019 bei der Stadt angestellt.

netzpolitik.org: Herr Itrich, können Sie die Stadt Bühl kurz vorstellen und erklären, was eigentlich ein „Digitalisierungsbeauftragter“ ist?

Eduard Itrich

Eduard Itrich ist Digitalisierungsbeauftragter in Bühl. Alle Rechte vorbehalten privat

Eduard Itrich: Bezeichnend für die Stadt Bühl ist ihre Vielfältigkeit. Im Südwesten Deutschlands zwischen Rheinebene, Weinbergen und Schwarzwald gelegen, bietet die Große Kreisstadt mit knapp 30.000 Einwohnern zahlreiche Kriterien, welche die Kommune lebens- und liebenswert macht. Ein überaus facettenreiches Vereinsangebot, hervorragende Möglichkeiten der Kinderbetreuung, eine aktive Gemeinschaft von Einzelhändlern, lebendige Kirchengemeinden und sehr engagierte Bürger sprechen ebenso für die Lebensqualität vor Ort wie Maßnahmen der Stadt in der Stadtentwicklung, dem Klimaschutz und natürlich der Digitalisierung.

Vielleicht ist die Position des Digitalisierungsbeauftragten einigen eher unter dem Titel des „Chief Digital Officer“ bekannt. Im Wesentlichen geht es um die Konsolidierung einer Digitalisierungsstrategie sowie der Orchestrierung der digitalen Transformation innerhalb wie auch außerhalb der Stadtverwaltung. Ich beschäftige mich mit Themen wie eGovernment, Smart City sowie Open Data und innerhalb des Rathauses natürlich auch mit der Automatisierung bestehender Verwaltungsabläufe.

„Ohne Registrierung und sensible Daten“

netzpolitik.org: Sie haben kürzlich die Videoplattform „Palim! Palim!“ eingeführt. Können Sie den Anwendungsfall erklären und was „Palim! Palim!“ genau ist?

Itrich: Auf Basis der freien Software „Jitsi Meet“ haben wir eine offene Videokonferenzplattform unter dem Namen “Palim! Palim!” geschaffen. Dies ist ein kostenfreies Angebot für Videotelefonie an alle Bühler Bürgerinnen und Bürger und selbstverständlich über die Gemarkungsgrenzen der Stadt hinaus. Wir unterstützen Familien, Freundeskreise, Vereine, Initiativen und auch Unternehmen dabei, sich auf eine unkomplizierte sowie niederschwellige Weise digital begegnen zu können.

Es benötigt nicht mehr als einen aktuellen Browser, um in Kontakt zu bleiben. Ganz ohne Registrierungszwang oder Erhebung von sensiblen Metadaten. Seit der Veröffentlichung unserer Plattform Anfang April haben wir viele interessante Anwendungsfälle gesehen: etwa das digitale Kinderfreizeitprogramm zum gemeinsamen Basteln oder das langersehnte Wiedersehen zwischen Pflegeheimbewohnern und ihren Familien.

netzpolitik.org: Wie kam die Idee hinter „Palim! Palim!“ zustande?

Itrich: Die Idee einer eigenen Videokonferenzplattform entstand ursprünglich aus dem Wunsch heraus, auch während der Corona-Pandemie weiterhin Gruppenunterricht an der städtischen Musikschule anbieten zu können. Auf Grund freier Kapazitäten haben wir uns im weiteren Verlauf des Projekts dazu entschlossen, die Plattform allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung zu stellen. Heute sind wir sehr stolz darauf, dass wir diesen mutigen Schritt gegangen sind und stellen fest, dass sich einige ganz neue Diskussionen um digitale Souveränität und Daseinsvorsorge im digitalen Zeitalter entwickelt haben.

„Neue Diskussionen um digitale Souveränität und Daseinsvorsorge“

netzpolitik.org: Warum haben Sie Jitsi Meet für „Palim! Palim!“ gewählt?

Itrich: Das freie Software-Projekt „Jitsi Meet“ war genau die Software, nach der wir gesucht haben. Sie bietet unserer Zielgruppe einen sehr einfachen Zugang zu Videokonferenzen, lässt sich gut administrieren und durch die aktive Community findet man schnell eine Lösung zu eventuell auftretenden Problemen. Weiterhin hatten wir die Möglichkeit, die Software genau nach unseren Vorstellungen anzupassen, um beispielsweise auch das städtische Design miteinfließen zu lassen.

Screenshot Palim Palim

„Palim! Palim!“ wurde eigentlich für die städtische Musikschule aufgesetzt, dann aber größer aufgezogen. Alle Rechte vorbehalten Stadt Bühl

netzpolitik.org: Welchen Unterschied macht es, ob Sie freie Software verwenden oder nicht?

Itrich: Besonders die Option, die Software nach Belieben anpassen zu können, gab uns die Möglichkeit, unsere stadteigene, individuelle Videokonferenzlösung zu schaffen. Wir sind der Überzeugung, dass genau dieser lokale Bezug und das damit verbundene Vertrauen erheblich zum Erfolg der Plattform beigetragen haben. Gleichzeitig eröffnet uns freie Software die Möglichkeit, den Schutz persönlicher Daten sowie der Privatsphäre unserer Nutzer bereits im Designprozess mitzudenken. Wir können uns bewusst für Datensparsamkeit und gegen die Einbindung unnötiger Tracker entscheiden.

Und nicht zuletzt war die sehr aktive Community von Jitsi Meet eine gute Unterstützung bei der Umsetzung einer eigenen Instanz. Es gab kein Problem, zu dem wir nicht in den Foren oder Channels fündig wurden.

„Unglaublicher Schub für freie Software“

netzpolitik.org: Wie war das Feedback zu „Palim! Palim!“ bisher?

Itrich: Umwerfend! Wir haben zu keinem Zeitpunkt mit so einer großartigen Resonanz gerechnet. Viele Bürgerinnen und Bürger drücken uns ihren persönlichen Dank aus und wir haben aufgehört mitzuzählen, wie viele Kommunen sich mit großem Interesse an uns gewandt haben. Ich glaube, dass freie Software derzeit einen unglaublichen Schub erfährt und die Sensibilität für Datensouveränität stark zunimmt.

netzpolitik.org: Gibt es noch andere freie Software-Projekte, an denen Sie und Ihre Abteilung arbeiten oder zu denen Sie beitragen?

Itrich: Wir waren lange auf der Suche nach einer einfachen Lösung, um Sitzungs- sowie Besprechungsprotokolle allen Teilnehmenden gebündelt zugänglich zu machen und wichtige Aufgaben nachverfolgen lassen zu können. Mit dem Freien Software Projekt „4Minitz!“ haben wir einen starken Kandidaten entdeckt, der fast allen unseren Anforderungen entsprach. Einziger Haken: Die Oberfläche war zu diesem Zeitpunkt komplett in Englisch gehalten und es bestand die Gefahr einer zu geringen Akzeptanz innerhalb der verschiedenen Fachämter. Mit insgesamt über 11.000 Zeilen Änderungen an der Codebasis haben wir die Entwicklung der Internationalisierung und Lokalisierung angestoßen. Uns ist es sehr wichtig, offene Software nicht einfach nur zu nutzen, sondern auch der Community wieder etwas zurückzugeben. Mittlerweile kann 4Minitz! in 18 verschiedenen Sprachen genutzt werden.

netzpolitik.org: Sie verwenden auch „decidim“. Könnten Sie erklären, wofür Sie es verwenden?

Itrich: Unser Ansatz bei der Digitalisierung ist, diese nicht einfach von oben ohne jegliche Beteiligung nach unten zu diktieren. Wir möchten, dass sich alle Mitarbeitenden äußern können – insbesondere auch Vorbehalte oder Kritik gegenüber neuen Lösungen oder Angeboten. Im Zuge dessen waren wir auf der Suche nach einer geeigneten Beteiligungsplattform. Auch hier wurden wir wieder bei einem freien Software-Projekt fündig.

Mit dem Framework „decidim“ konnten wir sehr schnell ein internes Beteiligungs- und Vorschlagsportal auf die Beine stellen, welches den direkten Austausch innerhalb unserer Verwaltung fördert. Das quer über alle Ämter verteilte Digitalisierungsteam kann nun mit „decidim“ ganz einfach Ideen bündeln, diskutieren und interne Entscheidungsprozesse transparent für alle Mitarbeitenden offenlegen.

Interne Beteiligungsplattform für die Stadtverwaltung

netzpolitik.org: Was hat Sie dazu veranlasst, „decidim“ auszuwählen?

Itrich: Ein zentraler Baustein von „decidim“ ist die Vernetzung von Onlinediskussionen mit analogen Treffen vor Ort. Wir können also Vorschläge und Ideen ganz einfach in eine Besprechung überführen und die Ergebnisse aus dieser wiederum transparent auf der Plattform präsentieren. Diese gesunde Mischung aus Online- und Offlineformaten ist aus unserer Sicht der Schlüssel für eine erfolgreiche Beteiligungsplattform.

netzpolitik.org: Benutzen Sie „decidim“ nur für die interne Kommunikation oder auch für die öffentliche Kommunikation mit den Bürgern und Bürgerinnen?

Itrich: Derzeit leider nur für das interne Ideenmanagement, aber wir planen fest mit der Bereitstellung einer offenen Beteiligungsplattform für alle Bürgerinnen und Bürger auf Basis von „decidim“.

netzpolitik.org: Was sind die Hürden und was müsste verbessert werden, bevor man „decidim“ für die öffentliche Kommunikation mit den Bürgern einsetzen könnte?

Itrich: Aus technischer Sicht ist das Framework großartig und auch hier ist eine starke Community wieder Gold wert. Allerdings ist die überwiegend maschinell erstellte Übersetzung ins Deutsche für einen öffentlichen Betrieb eher ungeeignet. Aber auch hier planen wir derzeit einen weiteren mutigen Schritt und erwägen eine Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung einer professionellen Übersetzung. Ihr dürft gespannt bleiben!

netzpolitik.org: Würden Sie andere Kommunen ermutigen, ebenfalls freie Software einzusetzen?

Itrich: Auf jeden Fall! Der zusätzliche Zeitaufwand zu Beginn eines auf freier Software basierenden Projekts mag in erster Linie sicherlich abschrecken. Der langfristige Effekt wiegt die anfänglichen Investitionen jedoch wieder auf. Mit einer starken Community im Rücken wird die Weiterentwicklung des Projekts und der Support für die eigene Umsetzung gewährleistet.

„Nicht gleich als ersten Schritt ein bestehendes System ersetzen“

netzpolitik.org: Was sind Ihrer Meinung nach die drei Hauptvorteile des Einsatzes freier Software in der öffentlichen Verwaltung?

Itrich: Wir sehen die Hauptvorteile freier Software in der vollen Anpassbarkeit, der
Datensouveränität sowie in der Stärkung des Gemeinnutzens durch kollaborative Weiterentwicklung. Insbesondere sichert der letzte Punkt, dass das Projekt nicht nur hinsichtlich der Vermarktbarkeit weiterentwickelt wird, sondern auch die Sicherheit sowie die Wartbarkeit der Codebasis sichergestellt wird.

netzpolitik.org: Was ist ein guter Anfang für eine öffentliche Verwaltung, sich für freie Software zu entscheiden?

Itrich: Fangen Sie mit etwas Neuem an und versuchen Sie nicht als ersten Schritt ein bestehendes System vollständig zu ersetzen. Sie sind auf der Suche nach einer neuen digitalen Lösung oder wollen ein neues Angebot auf den Weg bringen? Free Software first! Mit diesem kleinen Reminder im Hinterkopf bin ich mir sicher, dass auch Ihr erstes auf freier Software basierendes Projekt ein Erfolg werden kann.

netzpolitik.org: Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen für die FSFE stellte Bonnie Mehring, Bearbeitung bei netzpolitik.org Markus Reuter.

Quelle https://netzpolitik.org/2020/interview-wie-freie-software-die-menschen-im-badischen-buehl-begeistert/

sichere Videokonferenz https://konferenz.buehl.digital/