Bericht zum vergangenem Samstag in Lüchow

Es war schon absurd, was für Szenen sich am vergangenen Ostersamstag in der Innenstadt von Lüchow, einer kleinen Kreisstadt im Wendland, dem östlichen Zipfel Niedersachsens, abspielten.

Unter dem Motto „Yes we care“ hatten politische Initiativen aus dem Landkreis dazu aufgerufen sich unter Wahrung des Abstandsgebots ins Stadtgebiet zu begeben um einzeln oder zu zweit für eine Verbesserung der Situation im Care-Bereich einzutreten. Gerade in Zeiten der Corona-Krise schien es den Aktivist*innen wichtig für eine Verbesserung der Situation in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Erziehung einzutreten. Dabei ging es einerseits darum Solidarität zu zeigen, andererseits wurde beispielsweise auch gefordert, dass eine Loslösung dieser Bereiche von der Marktlogik dringend nötig sei. Einfacher ausgedrückt: Es ist nicht notwendig, dass ein Krankenhaus oder ein Altersheim Profit machen muss, um zu funktionieren. Im Gegenteil: Die massiven Sparmaßnahmen in der Vergangenheit haben dazu geführt, dass ein Virus dazu in der Lage ist das Gesundheitssystems eines der reichsten Länder der Welt innerhalb weniger Wochen vollkommen zu überfordern. Ziel der Aktion war es zu zeigen, dass nicht der Virus daran schuld ist, dass wir gerade alle zu Hause bleiben und Abstand halten müssen, sondern der kapitalistische, patriarchale Nährboden auf dem er wachsen und gedeihen, oder besser gesagt sich übertragen und vermehren kann.

Das Bild was sich den zahlreichen Passant*innen, Pressevertreter*innen und Stadtbewohner*innen dann zeigte hatte jedoch eher den Anschein einer grauen Zukunftsvision, in der demokratische Grundwerte zu Gunsten eines autoritären Kontrollstaates über den Haufen geworden wurden.

Bereits zu Beginn der dezentralen Aktion um 10 Uhr war der Lüchower Marktplatz von zahlreichen großen Einsatzfahrzeugen der Polizei umstellt, eine Hundertschaft der Lüneburger Polizei riegelte jeden Zugang zum Markt ab, wobei das Betreten des Ortes jeder Zeit möglich war.

Zahlreiche Menschen standen einzeln mit viel Abstand zueinander an verschiedenen Stellen des Marktplatzes und trugen Schilder und Kleidungsstücke mit politischen Aufschriften. Aus einer kleinen unscheinbaren Box schalten Lieder wie „Die Gedanken sind frei“ über den Platz. Viele der Anwesenden sind eher ruhig, vereinzelt kommen Menschen auf den Platz um an einem der Marktstände einzukaufen, da die Schlangen mit 1,5 Metern Abstand sehr groß sind ist die Situation recht unübersichtlich. Wer sich aktiv an der Situation beteiligt und wer nur einkauft ist manchmal kaum zu unterscheiden. Offensichtlich ist es beispielsweise bei einer Person, die ein Schild mit der Aufschrift „2 Meter Abstand zum demokratischen Sektor“ trägt. Sie ist heute vor allem hier, um gegen das Vorgehen der Polizei am vorangegangenen Samstag, dem 4. April zu demonstrieren. An diesem Tag hatte es eine ähnliche Veranstaltung gegeben, dort als Teil eines bundesweiten Aktionstags der Seebrücke unter dem Motto „leave no one behind“ zur Unterstützung und Solidarisierung mit den Menschen in den Lagern entlang der EU-Außengrenzen.

Eine Dreiviertelstunde nach Beginn der Aktion verkündete die Polizei die sogenannte „Versammlung“ offiziell aufzulösen und mit der „Abarbeitung durch unsere Mitarbeiter“ in Kürze beginnen zu wollen. Was daraufhin folgt ist eine Abfolge verstörender Momente:

Drei Polizeibeamte nähren sich plötzlich im Laufschritt der Person, die durch ihre Box die Musik abspielt. Sie springt auf und versucht sich vor den anrückenden Polizisten in Schutz zu bringen, doch ein Verlassen des Marktplatzes ist ihr auf Grund der Abriegelung durch die Hundertschaft nicht möglich. Nach einigen Minuten wird sie gestellt, die Musik verstummt vom einan auf den anderen Moment und die betroffene Person wird zur „Abarbeitung“ in eine Nebenstraße des Marktplatzes geführt, eine enge, schattige Gasse die voll gestellt ist mit Polizeifahrzeugen.

Die nun eintretende geisterhafte Stille macht die Stimmung auf dem Marktplatz noch gruseliger und absurder. Sie wird immer mal wieder durchbrochen, wenn sich einzelne Personen lautstark beschweren, beispielsweise darüber, dass sie am Einkaufen gehindert werden, weil sie ein Kleidungsstück mit einer politischen Meinungsbekundung tragen. Teilweise scheint es sogar zu reichen, dass man diese Personen einfach nur begleitet.

In einem Fall führt die Diskussion die eine Frau mit mehreren Beamten führt dazu, dass sie sich an einem Stand anstellen darf, dann jedoch kurz darauf von einem anderen Beamten dazu aufgefordert wird den Platz zu verlassen. Als sich die Frau dem verwehrt und sich weigert zu gehen durchbricht der Beamte das Abstandsgebot von 1,5 Metern, weshalb sich die Frau abwendet und schnellen Schrittes weg geht. Sie wird verfolgt und kurz darauf ergreift der Polizist sie von hinten an ihren Schultern. Sie entreißt sich seinem Griff und verliert dabei ihren Geldbeutel, der Polizist drängt sofort wieder auf sie ein, sie solle den Ort nun endlich verlassen. Mit Müh und Not hebt die Frau ihr Geld und ihr Portemonnaie auf und versucht sich erneut dem Polizisten zu entziehen. Dieser drängt sie an den Rand des Marktplatz. Ihr wird ein Ordnungsgeld angedroht und sie erhält einen Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet von Lüchow.

Ein Stück die Straße runter wird eine andere Person aufgehalten. Die Person befindet sich auf dem Weg zum Supermarkt, sie hat ein etwa 5x15cm großes Schild mit der Aufschrift „Grenzenlose Solidarität“ bei sich. Als sie auf die Polizeikette zugeht rücken sofort mehrere Beamte zusammen. Einer von ihnen hält sie fest, um sie am gehen zu hindern. Ihr Ausweis wird verlangt. Sollte sie ihn nicht vorzeigen, werde man sie notfalls durchsuchen, weil sie gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen habe.

Das unscheinbare, kleine Schild scheint für die Polizeibehörden ein Anlass zu sein, um eine Frau ihrer Freiheit zu berauben, sei es die Freiheit einen öffentlichen Platz zu queren oder die Freiheit eine politische Meinung zu äußern.

Um der angedrohten Maßnahmen zu entgehen begibt sich die Frau wieder in Richtung Markt. Dabei wird sie zunächst von einem, dann von mehreren Polizeibeamten verfolgt. Ein Beamter versucht die Frau ihrer Rechte zu belehren, gibt aber nach wenigen Momenten mit den Worten „es ist mir egal, ob sie die Belehrung hören oder nicht“ auf. Die Frau läuft weiter umher und wird dabei zunehmend ohne Wahrung des Sicherheitsabstands von mehreren Polizisten verfolgt.

Die Person erhält einen Platzverweis. Sie selbst gibt jedoch an, dass sie schon weit außerhalb des Marktplatzes war, als sie aufgehalten wurde. Immer wieder halten sich die Behördenmitarbeiten nicht an den Sicherheitsabstand. Mittlerweile hat sich ein kleiner Kessel von 6 Polizist*innen um die Frau gebildet, dabei wird sie auch immer wieder angefasst, um sie am gehen aufzuhalten. Irgendwann sieht sie sich jedoch gezwungen stehen zu bleiben. Als sie ihre Tasche an eine andere Person weiterreicht werden ihr ein Ordnungsgeld und Ingewahrsamnahme angedroht. Um dem zu entgehen überreicht sie gezwungenermaßen ihren Personalausweis an einen Beamten.

Gegen 11:30 wollen zwei junge Personen den Marktplatz verlassen und werden von mehreren Polizisten abgewiesen. Der Grund ist vollkommen unklar. Kurz darauf taucht ein weiterer Beamter auf und fragt, warum die beiden Frauen mit den Einkäufen von der Post am verlassen des Platzes gehindert wurden. Es entsteht eine hitzige Diskussion, die Situation scheint uneindeutig und es gibt keine Klarheit darüber, wie mit der Situation verwahren werden solle. Wenige Minuten später tauchen die beiden Frauen begleitet von einem weiteren Beamten erneut auf und werden durch einen weiteren Ausgang hinaus gelassen.

Hier zeigt sich, wie an so vielen Stellen an diesem Tag, dass der Staat nicht in der Lage ist angemessen mit der Situation der Pandemie umzugehen. Einerseits wirkt das Vorgehen der Polizei willkürlich und andererseits zeigt sich ein aus der Kontrolle geratener Staat, der Grundrechte gegeneinander abwägt und damit de facto einzelne von ihnen aushebelt. Es ist erschreckend, dass Grundrechte, also die Grundlage dessen, was Bürger*innen schützen soll, außer Kraft gesetzt werden, mit der Argumentation man wolle Bürger*innen schützen. Man sollte meinen, dass es gar nicht möglich ist ein Grundrecht über ein anderes zu stellen, sind sie doch allesamt Grundrechte.

Eine weitere Situation beweist, dass hier zunehmend alles außer Kontrolle gerät: Nun darf ein junger Mensch den Marktplatz nicht verlassen, weil er ein T-Shirt mit einer aufgedruckten Sonne, einem geschichtsträchtigen Symbol der Region trägt. Dieses Kleidungsstück ist in dieser Region etwa so normal wie das tragen eines Nike-Shirts in einer Großstadt. Der junge Mensch gibt an, dass dies sein normales Outfit sei und er „eigentlich immer mehr oder weniger so“ rumlaufe. Es entzündet sich eine weitere Diskussion in der mehrere Beamte immer wieder den Sicherheitsabstand durchbrechen. Von hinten haben sich mehrere Passant*innen genährt und mitverfolgt, was hier so eben passiert ist. Sie erheben ihre Stimme und weisen die Beamten darauf hin, dass es keinen erkennbaren Grund dafür gibt den jungen Menschen aufzuhalten. Als diese nicht reagieren werden sie lauter und machen deutlich, dass sie das Vorgehen der Polizei lächerlich finden und schockiert von der Absurdität der Situation sind. Wenige Minuten später darf die Person ohne weiteres den Marktplatz verlassen. Die Polizei scheint selbst nicht so richtig zu wissen, was sie hier eigentlich tut oder tun soll. Klare Anzeichen eines Staates der in Panik geraten ist und wie ein kleines Kind um sich schlägt, sobald ihn irgendein Verhalten irritiert.

Am anderen Ende des Marktplatzes wird nun eine Krankenschwester kontrolliert, die hierher gekommen ist, um für eine Stärkung ihrer Rechte und die Verbesserung ihrer Situation, und die ihrer Kolleg*innen einzutreten. Die Plakate die sie am Körper trägt werden fotografiert, die genauen Texte werden notiert und so bald die Personalien festgestellt sind darf sie passieren.

Im gleichen Moment kommen aus der „Abfertigungsgasse“ mehrere Beamte mit einer älteren Person zu einem Auto gelaufen. Die Person trägt keine Hose mehr, was sehr demütigend und erniedrigend wirkt. Sie wird scheinbar zu ihrem Auto begleitet, damit sie dort ein Ausweisdokument herausholen kann. Warum die Person keine Hose trägt lässt sich nicht erkennen.

Plötzlich sind von der Mitte des Platzes laute Rufe zu hören „2 Meter Abstand“. Mehrere Beamte tauchen auf, zu zweit zerren sie eine Person in Richtung der dunklen Gasse, die Person ruft immer wieder verzweifelt „2 Meter Abstand“. Die Situation wird immer unübersichtlicher, zahlreiche Beamte scharen sich um die Person, plötzlich liegt sie auf dem Boden. Mehrere Beamte zwingen die Person am Boden zu bleiben, scheinbar sollen ihr Handschellen angelegt werden. Die Person ruft jetzt mehrfach „Sie haben nicht mal eine Maske auf“ – und wirklich, mindestens einer der Beamten der hier die Maßnahme durchführt und der Person dabei immer wieder sehr nahe kommen, trägt keine Atemschutzmaske.

Auch an zahlreichen weiteren Orten innerhalb des Stadtgebietes hatten sich Menschen alleine oder zu zweit mit politischen Botschaften hingestellt. Die meisten von ihnen erlebten solche oder ähnliche Situationen und erhielten dabei viel Lob und Solidarität von Passant*innen und Einkaufenden, während das Vorgehen der Polizei eher mit Verblüffung und Fassungslosigkeit aufgefasst wurde.

Insgesamt machen die vielen verstörenden Situationen deutlich, wie unüberlegt und planlos der Umgang der Bundesregierung und der Landesregierungen mit der Pandemie ist. Nach wie vor fehlen die faktischen, wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die zahlreichen Maßnahmen rechtfertigen, die unseren Alltag und unser Leben einschränken. Das staatliche Handeln scheint weniger durch sinnvolles Nachdenken geleitet zu sein, als durch die Tatsache, dass die meisten Entscheidungsträger*innen (aus der Politik) selbst Teil der Risikogruppe sind, was natürlich nicht bedeutet, dass sie keine Solidarität verdient hätten. Es wirkt nur so, dass sie durch ihre Perspektive eher ein aufgescheuchter Hühnerhaufen sind, als ein besonnen handelnder, stabiler Staat, der das Ziel verfolgt seine Bürger*innen und seine demokratischen Grundwerte und Ideale gleichermaßen zu schützen.