Durch den Dominoeffekt der Pandemie sind wir alle miteinander verbunden. Foto: imago images/imagebroker Corona und soziale Folgen
Von Menschen, Fledermäusen und Göttern
Das Virus verbindet – und trennt. Kritik an der Individualisierung von Risiko
Von Bini Adamczak
Hypochondrisch oder rücksichtslos? Verantwortungslos oder paranoid? Zwischen diesen Polen bewegt sich der alltägliche Umgang mit der Corona-Pandemie in Deutschland. Auf mehr oder minder absehbare Zeit. Die untergründige Angst vor einer zweiten Welle, wie sie in Iran, Israel, teilweise auch den USA bereits eingetreten ist, spiegelt sich in Spannungen im Alltag. Wer trifft wen, wie viele und mit welchem Abstand? Begrüßung mit Schuh, Ellenbogen oder höflichem Nicken? Diese Fragen müssten sich nicht stellen. Der Status der Pandemiebekämpfung könnte heute bereits ein wesentlich besserer sein. Ein Blick nach Neuseeland, Kerala, Kuba, Südkorea, Vietnam, wo das Virus teilweise ganz verschwunden ist, bestätigt das. Doch gerade in Abwesenheit einer politischen, das heißt kollektiven Lösung ist die Bevölkerung aufgerufen, in ihren individuellen Risikokalkülen den Widerspruch zwischen Gesundheits- und Wirtschaftspolitik auszutarieren. Michel Foucault bezeichnete es als neoliberale Gouvernementalität. Eine (in diesem Fall biopolitische) Regierung durch Individualisierung.
Der Fetisch der Ökonomie
Die liberale Parole »Sollen sich doch alle um sich selbst kümmern (und Frauen* Verantwortung für Kinder oder Kranke tragen)« funktioniert jedoch nicht unter den Bedingungen der Pandemie. Denn das eigene Verhalten gefährdet nicht ausschließlich einen Körper, sondern im Kettenbrief der Infektion auch andere. Was das Ansteckungsgeschehen in Erinnerung ruft, ist das verdrängte Wissen darum, dass die irdischen Lebewesen irreduzibel miteinander verbunden sind. Nicht nur durch den Geld-, Waren und Datenverkehr, sondern auch durch den Verkehr der Rachen und Lungen, der Tröpfchen und Viren. Corona hat gezeigt, dass es nur wenige Monate dauert, bis sich Menschen aller Flecken der Erde einmal gegenseitig in den Mund gespuckt haben. Und nicht nur die Menschen, sondern auch die Fledermäuse, Schuppentiere und Götter: Die Pandemie hat auf einem offenen Fleischmarkt ihren Anfang genommen und verzeichnet ihre stärksten Ausbrüche in den Betrieben der Fleischfabriken und in Gotteshäusern.
Wo die Individualisierung des Risikos nicht aufgeht, wird die Konstruktion von Risikogruppen bemüht. Das ist auch die Realität der Lockerungen: Genug der Freiheitseinschränkungen für alle, können die Kranken sich nicht um sich selbst kümmern? Wie gut das klappt, lässt sich an Schweden sehen. Nach wiederholten Ausbrüchen in Pflege- und Altenheimen stellte man fest, dass pflegebedürftige Menschen gar nicht ganz weggesperrt werden konnten, weil sie im Kontakt mit Pflegepersonal stehen, das sich selbst nicht in Isolation befindet. Überraschung: Es sind gar nicht die Alten, die die Alten pflegen.
Aber ist der Anspruch auf den Schutz des Lebens, gerade der Gefährdeten, nicht ohnehin überzogen? Müssen die Schwachen nicht vielmehr Opfer bringen? Für die Starken und im Namen der Freiheit? Dan Patrick, Vizegouverneur von Texas, war einer der ersten, der das Unbewusste des kapitalistischen Geistes offen aussprach: Alte Menschen sollten bereit sein, ihr Leben zu riskieren zum Wohle von Wirtschaft und Nation. In Deutschland zogen Wolfgang Schäuble und Boris Palmer nach. Der Schutz alter und kranker Menschen müsse mit dem Schutz der Wirtschaft gegengerechnet werden; dabei könne das bloße Überleben nicht einfach Vorrang beanspruchen. Was die Politikerinnen für die nationale Volkswirtschaft zum Ausdruck brachten, war der kapitalistische Ökonomiefetisch in Reinheit: Die Wirtschaft dient nicht dem Leben. Das Leben soll der Wirtschaft dienen.
Die Kapitalfraktion, die diese Option befürwortet, stellt Anwärter fürs Kanzleramt, nicht den Kanzler, sie ist in Deutschland einflussreich, aber noch durch andere Kräfte gezügelt. In anderen Regionen der Welt bestimmt sie direkt die Politik. Das – und Glück – ist der Grund dafür, dass Deutschland weltweit einen verhältnismäßig guten Eindruck macht. Nur vor dem Hintergrund von Großbritannien und Schweden, USA und Brasilien kann der Verlauf der Pandemie in Deutschland als relativer Erfolg erscheinen. Nur 9100 Tote – super! Gegenüber Trump, der vorschlug, Bleichmittel zu spritzen gegen das Virus, ist es leicht, die Vernunft zu spielen. Die Ursache der liberalen Begeisterung für Merkel brachte der Autor Indi Samarajiva auf den Punkt: »She didn’t even mention bleach.« (Sie hat Bleichmittel nicht einmal erwähnt.)
Selbst wenn die anfängliche Trägheit der eurodeutschen Politik nicht vor allem auf die rassistische Fantasie zurückzuführen ist, das überlegene Gesundheitssystem Deutschlands werde mit den Problemen, die in China zum Shutdown ganzer Industrieregionen führten, mit Leichtigkeit fertig, sondern darauf, dass der Nordwesten der Welt von der Erfahrung der letzten großen Seuchen verschont geblieben war – die Expertinnen von Robert-Koch-Institut und Co hätten es besser wissen können. Spätestens aber als die Pandemie mit voller Wucht in Italien und Spanien ausbrach, war jedes weitere Warten fahrlässig. Die Ökosozialistinnen Christian Zeller und Verena Kreilinger haben es bereits im März festgestellt: Europäische Solidarität hätte bedeutet, die am stärksten betroffenen Industrieregionen in Italien in einen tatsächlichen Lockdown zu schicken – statt in einen, wo der Besuch von Beerdigungen verboten ist, aber die Arbeit in den Fabriken verpflichtend – und die entstehenden Kosten gleichmäßig über die Union zu verteilen. Doch das imperiale Deutschland, das seinen aktuellen Reichtum nicht zuletzt der Vormachtstellung innerhalb der EU verdankt, ließ sich nicht einmal zur Einführung von Eurobonds erweichen. Das nationale Interesse zeigte seine hässlichen Zähne. Zu den Momenten aus der Anfangszeit der Pandemie, die wir auf keinen Fall vergessen sollten, gehört jener, in dem die nationalen Regierungen begannen, einander medizinische Lieferungen zu rauben.
Soziale Distanz
Ein anderer Umgang mit der Pandemie in Europa hätte auch Menschen in anderen Teilen der Welt geholfen, wo wie in Brasilien oder Indien die Todeszahlen immer weiter steigen. Schließlich war es vor allem das viel reisende bürgerliche Milieu, das das Virus in Flugzeuggeschwindigkeit über den Planeten verteilt hat. Aber selbst als sich die deutsche Politik endlich durchgerungen hatte, Maßnahmen zu ergreifen, geschah das zögerlich. Wochenlang schreckte sie davor zurück, den Mundschutz verbindlich zu verordnen – als würde der nur asiatische Atemwege schützen. Stattdessen wurden dringende Empfehlungen ausgesprochen. Der freiheitliche Anspruch würde wunderbar zu einer anarchistischen Gesellschaft passen. Er passt weniger zu einer Gesellschaft, die sonst wenig Skrupel dabei zeigt, Freiheiten einzuschränken und auch massive Staatsgewalt anzuwenden. Etwa gegen Menschen, die Drogen an mündige Erwachsene verkaufen, mit denen diese sich ganz selbstbestimmt die eigene Birne zudröhnen wollen – ohne damit irgendwen anders zu gefährden.
Noch Ende April hätte es Möglichkeiten für eine andere Politik gegeben. Wenn zumindest Arbeitsschutzmaßnamen auch in den (Fleisch-)Fabriken durchgesetzt worden wären, dann hätte es vermutlich gereicht, den relativen Lockdown noch etwas länger gegen den Druck des Kapitals aufrechtzuerhalten. Nur einige Wochen. An die Stelle des zynischen Kalküls der mitigation, des Sterbenlassen in kontrollierter Zahl, hätte das Ziel des containments, des Austrocknens der Seuche, treten können. Selbst wenn das Ziel nicht gänzlich erreicht worden wäre, zehnfach niedrigere Zahlen hätten einen anderen Sommer ermöglicht.
Stattdessen Ausdehnung des alltäglichen Zwielichtszustands auf unbestimmte Zeit. Stattdessen Warten auf die nächste Welle und das Wüten der Wirtschaftskrise. Teilprivatisierung der Gesundheitspolitik, Appell zur Eigenverantwortung. In Österreich war es während des Lockdowns verboten, Menschen außerhalb des Familienhaushalts zu sehen, in den Niederlanden forderte das Gesundheitsamt »Singles« auf, sich im Dienste der Pandemiebekämpfung stabile Sexbuddies zu suchen. So fördert das Social Distancing Paarmonogamie und Familie, wo unter der Bedingung von fortgesetzter Lohnarbeit, finanziellen Ängsten und Homeschooling der Druck eskaliert. Während der Quarantäne erfuhren 7,5 Prozent der weiblichen Haushaltsmitglieder, 10,5 Prozent der Kinder körperliche Gewalt. Der einzige Ausweg aber, der aus diesem Gefängnis herausführen könnte, der Ausweg ins öffentliche Leben, ist verstellt. Dort, wo dieses zaghaft und ungelenk wieder aufgenommen wird, zeigt es im Brennglas die Beschädigungen, die die bürgerliche Öffentlichkeit immer schon konstituieren: Fremdheit und Misstrauen. Kurz, soziale Distanz. Während Arbeitsstress, Verkehrslärm und Luftverschmutzung wieder zunehmen, ist es gerade die öffentliche Intimität, die nicht in die Fugen und Nischen zurückkehren darf, in denen sie gegen alle Ordnung sonst noch gedeiht. Das Warten dauert an, es dauert der schlechten Aussicht nach noch lang. Wenn es heute ein Sinnbild gibt für das, was der kapitalistischen Gesellschaft mit heterosexistischer und rassistischer Produktionsweise zu jeder Zeit fehlt, dann ist es die Umarmung unter Fremden.
Bini Adamczak
Bini Adamczak arbeitet als Autorin zu den Themen Revolutionen, politische Theorie und Geschlechterverhältnisse. Zuletzt erschienen von ihr »Beziehungsweise Revolution« (Suhrkamp) und »Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman« (Edition Assemblage). Der vorliegende Text erscheint Ende August in einer Begleitpublikation zu der Ausstellung »Enttäuschung«, die vom 29. August 2020 bis 14. Februar 2021 in der Kunsthalle Osnabrück zu sehen ist und sich den großen Enttäuschungen des Alltags widmet.