Gorleben. Fast auf den Tag genau vor 40 Jahren zeigte ein niedersächsischer Ministerpräsident auf einen kleinen Punkt auf der großen Landkarte. Der Punkt hieß Gorleben. An diesem Ort schien Regierungschef Albrecht ein Problem los zu werden, das er lieber gar nicht erst bekommen hätte. Er musste – aus welchen Gründen auch immer – der Bundesregierung Orte angeben, an denen der hochradioaktive Abfall der Energieproduktion landen sollte. Die Bürgerinitiative Umweltschutz und die Bäuerliche Notgemeinschaft begehen dieses Datum in dieser Woche mit einer Reihe von Veranstaltungen. Den Auftakt machte am Sonnabend eine Treckerdemonstration mit mehr als 120 Traktoren vor dem Gorlebener Endlagerprojekt.
In Gorleben schien für den damaligen Ministerpräsidenten Albrecht alles zu passen: eine Bevölkerung, die einer der Demonstranten der ersten Stunde am Sonnabend rückblickend als „politisches Analphabetentum“ bezeichnete. Eine stabile politische Mehrheit für die Atomanlagen. Ein Landeigentümer, der Mitglied der Regierungspartei war, viel Gegend mit wenigen Menschen. Darunter ein Salzstock, von dem man wenig bis gar nichts wusste, den man deshalb als Hoffnungsträger bezeichnen konnte. Was Albrecht nicht ahnen konnte: dass er mit dem Fingerzeig einem bereits bestehenden Konflikt in der Gesellschaft ein Zentrum gab, ein Erkennungszeichen. Von da an hieß es neben „Atomkraft – nein danke“ immer auch „Gorleben soll leben“.
Als sich erstmals Menschen mit Traktoren auf den Weg machten, dem Regierungschef ihre Meinung zu eröffnen, war das noch eine Mutprobe. Demonstrieren kam nicht gut an in den eigenen Reihen. Sich mit den Chaoten von der Bürgerinitiative gemein machen, noch viel weniger. Landwirte, die sich öffentlich gegen Gorleben bekannten, waren eine Minderheit und mussten um ihr soziales Prestige fürchten. Das war am Sonnabend wie schon seit vielen Jahren anders. Ganze Familien junger Landwirte machten sich auf den Weg, viele von ihnen in der zweiten und dritten, sogar vierten Generation. Bei der Kundgebung am Endlager verkündete ein Zehnjähriger stolz, schon sein Uropa sei dabei gewesen. Andere Jugendliche wie Gesine Wiese aus Gedelitz berichteten, wie sehr die Auseinandersetzungen um Gorleben Teil ihrer Erfahrungen war.
Zwei Jahre nach der Standortbenennung wurde der junge Landwirt Heinrich Pothmer bundesweit bekannt, als er vor 100000 Demonstranten in Hannover seine Rede begann mit: „Mein lieber Herr Albrecht…“. Am Sonnabend, vor rund 400 Demonstranten in Gorleben, die Treckerfahrer und ihre Familienmitglieder eingerechnet, zog er eine Bilanz der vergangenen Zeit. Der „überhebliche Fingerzeig eines Ministerpräsidenten“ habe nicht nur Schlechtes bewirkt in vieler Leute Leben, meinte er: „Wir alle sind wachsamer und kritischer geworden.“ Mit „unserem Widerstand“ habe man der Gesellschaft viel erspart. Was er damit meinte, ist längst nicht mehr Allgemeingut. Dass die heute in Gorleben stehenden Anlagen nur ein paar Krümel der ursprünglichen Planungen sind, hat nicht einmal die Bürgerinitiative immer als Erfolg gesehen. Geplant war vor 40 Jahren eine Industrieanlage auf zwölf Quadratkilometern, mit neuen Hochspannungsleitungen, neuer Eisenbahntrasse und neuer Straßenverbindung. Die Wiederaufarbeitungsanlage sollte größer sein als alles, was heute in La Hague und Windscale steht.
Pothmer wiederholte eines der damals gängigen Argumente gegen die Atomenergie: Kein Bauer bekomme eine Genehmigung für einen Stall, wenn er nicht nachweisen kann, dass er den Mist ordentlich entsorgt. Für die Atomenergie galt dieses Prinzip nicht. Dort wurden Kraftwerke gebaut, ohne dass der Verbleib der Abfälle gesichert war. Und es wird weiterer produziert, obwohl bis heute niemand wisse, wohin damit. Auf die Unbeugsamkeit dürften alle ein wenig stolz sein. Und auf die Kinder, die alles das schon mit der Muttermilch aufgesogen haben, erklärte Pothmer. Sie würden deshalb immer ein besonderes Verhältnis zum Wendland haben.
BI-Vorsitzender Martin Donat hatte die Demonstranten in Gorleben mit der Erklärung begrüßt, man habe sich nicht aus nostalgischen Gründen versammelt. Das Programm der Jubiläumswoche steht dagegen völlig im Zeichen der Vergangenheit, bis hin zu einem Vortrag über die Archäologie des Dorfes 1004. Eine Behandlung politischer Themen, wie sie die vergangenen 40 Jahre hervorgebracht haben, ist dagegen nicht vorgesehen.
gefunden ejz vom 20.2.2017