Die meisten vom Corona-Virus infizierten ArbeiterInnen gibt es in der Fleischindustrie, weltweit mit zahlreichen Fällen in den USA, Kanada, Brasilien, Irland.
In der BRD begann es mit 412 bei Müller-Fleisch in Birkenfeld, 131 bei Vion in Bad Bramstedt, 92 bei Westcrown in Dissen, bei Westfleisch 268 in Coesfeld und 40 in Oer-Erkenschwick, 77 bei Wiesenhof in Bogen – und dann der Klopper bisher über 1700 bei Tönnies in Gütersloh.
Auch in anderen Betrieben gibt es Infektionsherde, vor allem in Paket- und Logistikzentren, Großbetriebe, in denen ohne Unterbrechung weitergearbeitet wurde. Distanz- und Hygiene-Maßnahmen wurden nicht überall umgesetzt: Bei UPS in Langenhagen (Mitte Juni 156 Infizierte) gab es erst Masken, als Mitte Mai die ersten Infektionen auffielen, bei Amazon werden teilweise immer noch beengte Umkleideräume genutzt. In vielen dieser Betriebe werden die ArbeiterInnen mit Teilzeit, Befristungen und Leiharbeit erpresst, und in allen arbeiten viele MigrantInnen mit unterschiedlichem Status, manche haben Gründe, sich nicht direkt krank zu melden, wenn sie sich unwohl fühlen.
In der Fleischverarbeitung kommt dazu, dass die Leute in gekühlten, oft feuchten Räumen nah aneinander arbeiten; dort kann sich das Virus besonders gut ausbreiten und wird von Klimaanlagen optimal verteilt. Leute, die über Subunternehmer angestellt sind, arbeiten oft sechs lange Schichten in der Woche, harte Arbeit in Wechsel- und Nachtschicht – diese Anstrengung erhöht die Anfälligkeit für Infektionen.
Einige Unternehmer haben die Ansteckungen sofort auf die Wohnverhältnisse der ArbeiterInnen geschoben; sie wollten damit von den Arbeitsbedingungen ablenken – zeigten aber in aller Deutlichkeit auf das von ihnen installierte Werkvertragssystem. In überbelegten Wohnungen mit wenig Waschgelegenheiten sind Ansteckungen tatsächlich leicht möglich. Aber warum müssen die Leute so wohnen?
Too pig to fail
Auf Basis billiger und sehr produktiver Arbeit hat sich die Fleischindustrie in der BRD in den letzten 30 Jahren rapide ausgedehnt. Das heute vorherrschende System der Werkverträge gab es schon vorher. Schlachter zogen als Selbständige in Brigaden von Betrieb zu Betrieb. Als die Schlachthöfe ab den 1970ern größer und regional zusammengelegt wurden, blieben einige als feste Kräfte, sie waren nun Scheinselbständige. Die rechtliche Verantwortung dafür wurde in Subunternehmen verschoben. Mit dieser Strukturänderung, mit der Ausweitung und Konzentration der Fleischproduktion sanken die Löhne und das soziale Ansehen der Schlachter, der Job wurde unbeliebt. Ab den 80er Jahren wurden in der BRD ArbeiterInnen aus Osteuropa über bilaterale Kontingentverträge beschäftigt. Auf dem Papier »entsandte« sie ein Betrieb im Ursprungsland im Rahmen eines Werkvertrags in die BRD.
»Werkvertrag« bedeutet in der Theorie, dass ein bestimmter, klar abgegrenzter Teil der Arbeit an ein Subunternehmen ausgegliedert wird. Allein das Subunternehmen ist weisungsbefugt gegenüber den von ihm eingesetzten (meist über Leiharbeit beschäftigten) ArbeiterInnen und bringt die eigenen Vorarbeiter mit. Zum Teil sind auch die einzelnen ArbeiterInnen (schein-)selbständig, damit fallen Sozialabgaben, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall usw. komplett weg.
Seit der vollen »Arbeitnehmerfreizügigkeit« in der EU für die osteuropäischen Beitrittsländer ab 2011 – bzw. für Rumänien und Bulgarien ab 2014 – könnten die Leute direkt angestellt werden. Aber das gut etablierte System blieb bestehen, die Subunternehmen zahlten den ArbeiterInnen weiterhin teilweise Löhne und Sozialabgaben auf dem Niveau im Herkunftsland.
Aber es geht dabei nicht nur um die Lohnkosten. Die osteuropäische MigrantInnen haben in ihrem Herkunftsland keine Perspektive, ihr Aufenthaltsrecht ist in den ersten Jahren an den Arbeitsplatz gekoppelt, deshalb sind sie bereit, hart zu arbeiten und jede Menge Überstunden zu machen. Sie sollen gar nicht zu ArbeiterInnen werden, die auch mal langsamer arbeiten, mal krank machen und Widerworte geben. Mit den Subunternehmern lagern die »Fleischbarone« Verstöße gegen das Arbeitsrecht und die Verantwortung für unmenschliche Bedingungen aus. Durch den regelmäßigen Wechsel der beauftragten Subunternehmen werden Zuständigkeiten zusätzlich verschleiert. Oft ändert sich in Wirklichkeit nur der Name, die Strukturen und Verantwortlichen bleiben dieselben. Manche Subunternehmen stehen im Verdacht, lediglich Briefkastenfirmen der Schlachtereien selbst zu sein, manche machen Briefkastenfirmen auf, von denen sie dann »kontrolliert« und »zertifiziert« werden.
Die Subunternehmer stehen in Konkurrenz zueinander, viele Fleisch-Unternehmen heuern gleich mehrere an. Auch dadurch werden Proteste unterdrückt: Als die NGG versuchte, bei einem Subunternehmer einen Betriebsrat zu gründen, kündigte Danish Crown diesem sofort. Das wurde gerichtlich gestoppt, dann fuhr DC einfach die Zahl der Aufträge herunter.
Das gesamte System der Wohnungs- und Arbeitsvermittlung ist mit organisierter Kriminalität verstrickt. ArbeiterInnen werden im Betrieb und außerhalb eingeschüchtert – auch mit physischer Gewalt. Sie sind abhängig vom Subunternehmer, weil sie in einer Art Schuldknechtschaft Abzahlungen leisten müssen. Und weil durchaus nicht feststeht, dass sie im Streitfall ihren Lohn kriegen. Vielleicht haben sie auch selbst mal schwarz gearbeitet und fühlen sich erpressbar. In den Fängen dieses Milieus wird es schwieriger, sich Informationen und Hilfe zu holen, sich zusammenzutun und kämpferisch aufzutreten.
Zwischen einem Arbeiter und seinem Lohn werden weitere Stufen eingebaut, auf denen sich andere was davon abschneiden. Wie beim Caporalato in Italien profitieren viele.1 Das fängt vor Ort an: Kommunen in abgehängten Landstrichen haben durch die Schlachthöfe höhere Steuereinnahmen; EinwohnerInnen können Immobilien vermieten oder verkaufen, die sonst leer stünden. Außerdem entstehen für sie Jobs etwa als TechnikerInnen oder im Büro.
Häufig bezahlen die Subunternehmer nicht alle geleisteten Stunden. Immer ziehen sie den ArbeiterInnen überhöhte Gebühren für Arbeitskleidung, Transport und Arbeitsgeräte ab. Die Unterkunft ist an den Arbeitsplatz gekoppelt, auch das ist ein Druckmittel. Die Wohnungen werden von Subunternehmern gekauft oder gemietet und dann teuer an die ArbeiterInnen weitervermietet. Oft sind es Bruchbuden, die anders nicht mehr genutzt werden können. Die Arbeiter zahlen 230 – 350 Euro für einen Schlafplatz in überbelegten Zimmern; das bringt eine Menge Geld ein.
An der westlichen Grenze Nordrhein-Westfalens wird das Ganze auf die Spitze getrieben. Die Subunternehmer nutzen billigen Wohnraum in den verarmten, verlassenen Gegenden auf deutscher Seite, verteilt über viele kleine Ortschaften. Jeden Tag fahren sie die Arbeiter in Schlachthöfe in den Niederlanden, wo es verboten ist, vom Arbeitgeber auch den Wohnraum zu mieten.
ArbeiterInnen
Genaue Zahlen gibt es nicht. Die NGG schätzt, dass weit mehr als 40 000 Menschen über Werkverträge und Subunternehmen in Fleischbetrieben arbeiten. Sie kommen aus Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Ukraine, Moldawien, mittlerweile sind auch Geflüchtete dabei. Ihr Anteil im einzelnen Betrieb liegt zwischen 50 bis 90 Prozent. Der Frauenanteil liegt in manchen Betrieben bei 40 Prozent. Viele hoffen, den Job als Sprungbrett in die BRD nutzen zu können. Selbst der Mindestlohn ist im Vergleich zu den Möglichkeiten in ihrer Heimat sehr hoch. Viele unterstützen ihre zurückgebliebene Familie, viele wollen sie nachholen. Sich an einem Ort längerfristig niederzulassen, Deutsch zu lernen, aus den Knochenjobs auszusteigen, gelingt aber höchstens nach vielen Jahren: Wer aus Polen gekommen ist und noch immer dabei, hat mittlerweile einen der besseren Jobs und »wohnt« vielleicht auch hier.
Die ArbeiterInnen schufften oft bis zur völligen Verausgabung, weil sie keine Gelegenheit zur Erholung haben. Oft haben sie körperliche und psychische Probleme – Verletzungen und Überlastungsschäden sind nur der Anfang. Viele trinken, auch bei der Arbeit. Sie müssen die harte Arbeit aushalten und dürfen bei hohem Tempo das Fleisch nicht kaputt schneiden. Die Unternehmer sind auf eine gewisse Stabilität angewiesen, und darauf, überhaupt geeignete Leute zu finden. Auch wenn nicht für alle Jobs ausgebildete Fleischer eingesetzt werden, braucht man dazu Erfahrung. Roboter sind für solche Arbeiten nicht geschickt genug, eine stärkere Automatisierung hätte außerdem eine Einschränkung der Produktpalette zur Folge.
Die ArbeiterInnen zeigen ihren Unmut über die Bedingungen vor allem, indem sie weggehen, oft nach Skandinavien. In einigen Fällen haben ArbeiterInnen kollektiv mit ihrem Weggang gedroht, um Verbesserungen durchzusetzen. Die Unternehmer müssen auf immer weiter entfernte Orte zugreifen, um Leute zu finden. Und sie mussten die Bedingungen in den letzten Jahren verbessern, auch wenn sie immer noch beschissen sind.2
2014 schloss die NGG einen Tarifvertrag für einen Mindestlohn von zunächst 7,75 Euro ab, der ausrücklich auch von Subunternehmern mit Sitz im Ausland gezahlt werden sollte. Heute ist der gesetzliche Mindestlohn von zur Zeit 9,35 Euro die Untergrenze. Mittlerweile sind viele osteuropäische ArbeiterInnen in der Fleischindustrie nach deutschem Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht beschäftigt. Auch die Zahl der direkt bei den Fleischunternehmen angestellten ArbeiterInnen ist etwas gestiegen. Tönnies plante schon vor Corona »im Kampf um Mitarbeiter« (Westfalenblatt) den Bau von Werkswohnungen.
Bisher leben die ArbeiterInnen abgetrennt, sind auch in ihren Wohnorten kaum zu sehen, schon weil sie zwischen Arbeiten und Schlafen gar keine Zeit haben. Zum Teil können sie sich nicht einmal untereinander verständigen, weil sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Wenn sie die Gelegenheit haben, weil es vertrauenswürdige Beratungsstellen, Gruppen oder Einzelpersonen vor Ort gibt, zeigt sich ein großes Bedürfnis nach Austausch, Informationen und Kontakt.
Importweltmeister von Arbeitskraft
Die BRD ist Exportweltmeisterin für Waren und Importweltmeisterin für billige Arbeitskraft.
Die starke Ausdehnung der Fleischproduktion begann kurz vor der Jahrtausendwende; von 1997 bis 2012 stieg die Schlachtmenge um 61 Prozent, der Umsatz von 21,6 Mrd. Euro 2001 auf 36,7 Mrd. 2012. Um in der (inter-)nationalen Konkurrenz mitzuhalten, investierten die Betriebe in ihre Maschinerie und schlossen sich zu Großkonzernen zusammen. In dieser Zeit wurden in der BRD in allen Bereichen die Löhne gedrückt, und die Lebensmittelpreise mussten entsprechend sinken. Die Lebensmittelhändler waren zu großen internationalen Konzernen geworden und übten Preisdruck aus. Schlachthöfe schlossen sich zusammen, um längerfristige Abkommen mit Händlern treffen zu können. Es gab einen weltweiten Prozess der Konzentration und Zentralisierung, Länder wie Kanada und Brasilien weiteten ihre Schweineexporte aus. Die dänische Fleischindustrie mit einer sehr modernen und zentralisierten Produktionsstruktur lag in dieser Entwicklung ganz vorne. Die BRD zog nach – und überholte: Die zehn größten deutschen Schlachtbetriebe haben einen Marktanteil von fast 80 Prozent. Vion ist heute das größte Schlachtunternehmen für Rinder mit einem mengenbezogener Marktanteil von ca. 25 Prozent. Die vier großen Schweine-Unternehmen (Tönnies, Vion Food Germany, Westfleisch, Danish Crown) haben einen mengenmäßigen Marktanteil von mehr als 60 Prozent, allein Tönnies hat 27 Prozent. Die vorübergehende Schließung von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück führte dazu, dass Schweinehalter nicht mehr wussten, wohin sie die Tiere verkaufen sollen. Die nehmen durch Masttechniken fast ein Kilo am Tag zu, das kann über die »Schlachtreife« hinaus nicht lange weitergehen.
Die Konzentration hat auch dazu geführt, dass es beispielsweise in Thüringen und Sachsen keine nennenswerten Schlachthöfe mehr gibt. Anderswo stehen riesige Betriebe, deren Abfälle ökologisch nicht bewältigt werden können.
Exportindustrie
Die Fleischindustrie ist ein globales Geschäft mit riesigen Dimensionen. Der Fleischkonsum hat sich von 20 kg pro Kopf 1961 auf 49 kg pro Kopf 2013 mehr als verdoppelt, zugleich ist die Weltbevölkerung von drei auf über 7,5 Mrd. Menschen gewachsen. Die globale Fleischproduktion ist in dieser Zeit von 45 Mio Tonnen auf 259 Mio Tonnen gestiegen, der globale Fleischhandel hat sich allein vom Ende der 1990er Jahre bis 2016 auf 27 Mio Tonnen verdoppelt. Die Grundlage für diese Steigerung ist die Massentierhaltung, die Konzentration einer sehr großen Menge an Tieren auf kleinem Raum. Möglich geworden ist sie durch die Ausweitung der Produktion von Futtermitteln und ihren Transport durch die ganze Welt. Die Produktion von Mais hat sich seit 1990 verdoppelt, die von Sojabohnen verdreifacht. Dahinter stehen Subventionen, mehr Land und Gentechnik. Die Subvention von Futtermitteln für große Konzerne und die staatliche Finanzierung von Übernahmen haben die Konzentration im Bereich Schlachten und Fleischverarbeitung gefördert. Die großen globalen Unternehmen sind Tyson (Sitz in den USA), WH Group (Sitz in China) und JBS (Sitz in Brasilien).
Die BRD steht bei der Schweinefleischproduktion in Europa auf Platz eins (vor Spanien), bei Rindfleisch auf Platz zwei (hinter Frankreich), bei Geflügel auf Platz vier (hinter Polen, Frankreich, Großbritannien). Der Großteil des Fleischs bleibt im Inland, gemessen am Umsatz 83 Prozent (2016). Aber weil seit einigen Jahren der Fleischabsatz in der BRD stagniert, ist eine Ausweitung nur im Ausland möglich. Die auf kostengünstige Produktion getrimmte Fleischindustrie hat sich vom Netto-Importeur zum Netto-Exporteur gewandelt und ist zum weltgrößten Exporteur von Schweinefleisch geworden.
Der Fleisch-Export aus Deutschland ist von 2001-2010 um 250 Prozent auf 3,7 Millionen Tonnen gestiegen. Die Ausfuhr von Schweinefleisch wuchs mit 1,6 Millionen Tonnen auf mehr als das Dreifache. Der Außenhandel mit Geflügel stieg um 150 Prozent auf 393 000 Tonnen.
80-90 Prozent der Exporte gehen in andere EU-Länder. Das hat auch zur Folge, dass die dortige Fleischproduktion niederkonkurriert wird. Zunehmend wird auch in Drittländer exportiert, davon mehr als die Hälfte nach China (vor allem Schweinefleisch und Schlachtnebenprodukte).
Zur »Exportindustrie« gehört auch die Standortkonkurrenz. Über viele Jahre haben europäische Fleischkonzerne (vor allem französische, belgische und dänische Schlachtereien) große Teile ihres Geschäfts in die BRD verlagert.3 Vor einem Jahrzehnt schrumpfte die französische Fleischbranche jedes Jahr um zwei Prozent, während die deutsche um fünf Prozent wuchs. In Österreich sind um 2012 fünf große Schlachthöfe wegen der Konkurrenz aus der BRD pleite gegangen. Damals waren in vielen deutschen Schlachtbetrieben real ausgezahlte Löhne von unter fünf Euro für Werkvertragsarbeiter nicht selten, auch der 2014 eingeführte Mindestlohn von 8,75 Euro unterlief die Stundenlöhne in anderen Ländern deutlich (Dänemark 25 Euro, Italien 23 Euro, Belgien 15 Euro).
Die Niedriglöhne in der BRD veränderten die Machtverhältnisse in der dänischen Fleischindustrie grundlegend. Vorher waren die Arbeiter in den hochkonzentrierten, taylorisierten Betrieben gewerkschaftlich organisiert und streikten bei jeder Gelegenheit auch wild über alltägliche Probleme und Arbeitsbedingungen, da es kaum alternative Möglichkeiten zur Fleischverarbeitung gab. Die gute Position der Arbeiter änderte sich durch Verlagerungen in die BRD oder auch nur die Drohung damit. Die Lohnkosten, die 1996 noch fast gleich gewesen waren, hatten sich in beiden Ländern auseinanderentwickelt. Die dänischen Arbeiter haben in diesem Punkt nie nachgegeben, dafür gab es aber einen erheblichen Stellenabbau.
Die Fleischerzeugung wird hochsubventioniert. Es fließen Gelder aus den einzelnen Bundesländern, der EU und der Bundesregierung. Diese fördert seit Beginn der 2000er Jahre gezielt die industrielle Intensivtierhaltung und den Export von Fleisch, Milch und lebenden Tieren; außerdem profitiert die Fleischbranche von Rabatten bei Stromkosten. Und: Je mehr ein Betrieb als Werkvertrag vergibt, umso eher kann er sich von der EEG-Umlage befreien lassen, weil er damit weniger Personal- und anteilig höhere Energiekosten hat.
Das ganze System ist nur möglich, weil die Unternehmen den Aufbau und die Nutzung von Infrastruktur nicht bezahlen, genausowenig wie soziale und ökologische Kosten ihrer Produktion. Sie verursachen vielmehr dramatische gesellschaftliche und ökologische Probleme.
Im Dschungel
Seit dem 19. Jahrhundert ist die Fleischindustrie in den USA das Sinnbild für krasseste Ausbeutung, korrupte Gewerkschaften, Verwicklungen mit der Mafia und harte Kämpfe der ArbeiterInnen. Verschiedene Gruppen von ArbeiterInnen lösen sich dabei ab, werden in Konkurrenz zueinander gesetzt, kämpfen bisweilen zusammen, werden ausgetauscht. Heute arbeiten in den Fleischfabriken vor allem MigrantInnen aus Lateinamerika, Asien und Afrika. Ein Teil von ihnen hat keine Papiere, auch wenn durch die Razzien der letzten Jahre viele rausgeflogen sind.
Der Verdienst ist etwas höher als in anderen Jobs, zu denen sie Zugang haben; dafür arbeiten sie viel, hart und mit einem hohen Verletzungs- und Krankheitsrisiko. Sehnenscheidenentzündungen und Karpaltunnelsyndrom sind normal, Verätzungen und abgetrennte Gliedmaße häufig. 2017 haben sich täglich mehr als 27 ArbeiterInnen so sehr verletzt, dass sie mindestens eine Nacht im Krankenhaus verbringen mussten.
Ob und welche Gewerkschaft es gibt, ob die ArbeiterInnen über den Betrieb krankenversichert sind und ob es Lohnfortzahlung gibt, ist unterschiedlich. Seit die ArbeiterInnen in den 60ern eine kurze Phase hoher Löhne erreicht hatten, wurde jegliche einheitliche Organisierung zerschlagen, das Kapital hat die Betriebe aufs Land verlegt und die Arbeitsteilung stark ausgeweitet. Die Betriebe werden immer größer: 1977 wurden 38 Prozent der Schweine in Betrieben geschlachtet, die mehr als eine Million Tiere im Jahr verabeiten können, 1997 schon 88 Prozent. Das Smithfield-Werk in Sioux Falls (South Dakota) beispielsweise verarbeitet fünf Prozent des Schweinefleischs. In einem ähnlichen Betrieb von Smithfield in Mexiko ist möglicherweise 2006 die Schweinegrippe entstanden: die Gefahr von zoonotischen Übertragungen gibt es in diesen Situationen allemal.
Beim Ausbruch der Corona-Epidemie kamen zu den urbanen Zentren wie New York schnell Infektions-Cluster in ländlichen Regionen dazu. Diese befinden sich eindeutig genau da, wo es große Gefängnisse oder Schlachthöfe gibt. Von den zehn am stärksten betroffenen Counties gehen die Ausbrüche in sechs von ihnen auf die Fleischindustrie zurück. Ländliche Counties mit Corona-Ausbrüchen, die auf Fleischbetriebe zurückgehen, haben eine Infektionsrate von 1100 auf 100 000, solche ohne Verbindung zur Fleischindustrie eine von 209 auf 100 000. Anfang Juni waren mindestens 20400 Infektionen bei ArbeiterInnen in 230 Betrieben festgestellt worden, mindestens 74 sind gestorben.
Weil die Produktion so stark konzentriert ist, sind einzelne Betriebe »too big to fail«. Viele Supermarktregale blieben leer und die Fleischpreise stiegen, als eine kleine Zahl von Schlachthöfen geschlossen werden musste. Ganze Tierherden wurden gekeult, weil es keine Schlachtkapazitäten gab. Die Farmer hatten keinen Platz, die Schweine werden zu schwer, die Hühner sind auf schnelles Wachstum gezüchtet und sterben nach ca. 47 Tagen. Die Betriebe wurden so schnell wie möglich wieder geöffnet, mit mehr oder weniger glaubwürdigen Sicherheitsmaßnahmen und trotz der unter den Beschäftigten weiterhin grassierenden Krankheit. Ende April ordnete Trump per Erlass an, dass Fleischfabriken zur unverzichtbaren Infrastruktur gehören und geöffnet bleiben müssen. Er fürchtet sozialen Unmut, wenn es kein Fleisch zu kaufen gibt, und dass die Ausmaße der Krise noch deutlicher werden.
Neue Regulierungen
Die Bundesregierung kündigt die Abschaffung von Werkverträgen in der Fleischindustrie und stärkere Kontrollen an. Seit Jahren hatte sie sich mit Selbstverpflichtungen der Unternehmen und anderen Versprechungen begnügt und kaum kontrolliert. Ein Gesetz, demzufolge die Betriebe haften, wenn die Subunternehmer keine Sozialabgaben oder Mindestlöhne für ihre Beschäftigten zahlen, wurde 2017 nachts und quasi im Geheimen verabschiedet, damit die Fleischlobby nicht noch dazwischenfunkt. Danach haben sich die Kontrollen von Betrieben direkt halbiert. Der Zoll ist unterbesetzt, Gewerbeaufsicht und Arbeitsschutz bleiben untätig. Dabei hätten auch bestehende Regulierungen etwa zu illegaler Arbeitnehmerüberlassung und Mietwucher allemal gereicht, um einzugreifen.
Im Moment sind die Fleischunternehmen so unter Druck, dass sie selbst anbieten, Werkverträge »in zentralen Bereichen« abzuschaffen – aus Sorge ums Vertrauen in »deutsches Fleisch«.4 Upton Sinclair hat in seinem Roman »Der Dschungel« von 1906 die Ausbeutung und das Elend der osteuropäischen MigrantInnen in den Schlachthöfen von Chicago beschrieben. Die bürgerliche Leserschaft war vor allem über die mangelnde Hygiene entsetzt, durch die womöglich ihre Nahrungsmittel verunreinigt sein könnten. Auch heute hat der Corona-Ausbruch Schlachthöfe und Fleischverarbeitung in ein gleißendes Licht gerückt und allen deutlich gemacht, dass es so nicht laufen kann.
Viele Initiativen (auch von AnwohnerInnen) haben in den vergangenen Jahren versucht, die ArbeiterInnen zu unterstützen und Schlachthöfe kritisiert, Informationen sind also da.5 Die Regierung hingegen tut alles dafür, dass es im Großen und Ganzen so weitergeht wie bisher. Dazu spielen sie »VerbraucherInnen« gegen die ArbeiterInnen aus. Als seien diejenigen Schuld an der Ausbeutung im Schlachthof, die Fleisch im Supermarkt kaufen. Dabei wären alle bereit, 40 Cent mehr fürs Kilo Fleisch zu zahlen, wenn die ArbeiterInnen im Schlachthof dänische Löhne kriegen!
Fußnoten:
[1] Das »caporalato« ist ein süditalienisches, mafiöses Ausbeutungssystem. Der caporale hat einen Kleintransporter und sucht frühmorgens auf den Dörfern Tagelöhner zusammen, die er dann auf die Felder oder auf illegale Baustellen transportiert. Dafür streicht er meistens zwischen 50 und 60 Prozent des Lohns ein.
[2] Dass die Arbeiter durch ihre Mobilität die Bedingungen verändern, welche Fähigkeiten sie brauchen u.a. zeigen Peter Birke und Felix Bluhm: Arbeitskräfte willkommen. Neue Migration zwischen Grenzregime und Erwerbsarbeit. Sozial.Geschichte Online 25 (2019), S. 11–43.
[3] Zum Arbeitsplatzabbau in der französischen Fleischindustrie und Protesten dagegen s. Aufruhr in der Bretagne, Wildcat 95 (Winter 2023/14), S.47
[4] Elmar Wiegand, Werkverträge abschaffen alleine reicht nicht, ND 20.5.20].
[5] Ein neuer Sammelband mit älteren und aktuellen Beiträgen, u.a. Interviews mit ehemaligen Schlachthof-Arbeitern und Berichte von Initiativen vor Ort:
Jour Fixe Gewerkschaftslinke Hamburg (Hg.): Das Schweinesystem. Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums! Buchmacherei, Berlin 2020, 124 S., 10 Euro.