Connewitz Nach erneuter Randale in Leipzig haben die Autonomen Sympathien verspielt, heißt es. Dabei ist genau das ihre Stärke
Noch ein Foto, und das Handy ist weg“, das soll ein Autonomer im Leipziger Stadtteil Connewitz zu einer Reporterin der taz gesagt haben. Es war am Rande einer Demonstration für die linksradikale Medienplattform Linksunten.Indymedia, einer Demonstration für Pressefreiheit also, deren Teilnehmer aber nicht gefilmt werden wollten. Nicht gefilmt! Im Zeitalter von Instragram-Dauer-Postings gibt es tatsächlich noch junge Leute, die ihr Gesicht nicht veröffentlicht haben wollen, aus Protest gegen „das System“. Leben die in den 80ern?
Man sollte meinen, 2020 gäbe es sinnvollere Formen des Anti-System-Protests. Die Fridays for Future etwa schieben die Wirtschaft vor sich her. Tanzte nicht gerade ganz Davos nach Greta Thunbergs Pfeife? Oder Extinction Rebellion: Die Klimarebellen legen die Stadt lahm! Unterbrechen den Verkehrsfluss, für den Planeten. Das ist radikal und gleichzeitig so viel sinnvoller, als vermummt Böller auf Polizisten zu werfen. Autonome sind so unvernünftig. Schwarz. Rotzig. Dunkel. Dreckig. Nervig. Gefährlich. Kann man die nicht …? Ja, was?
Die meisten Medien jedenfalls sind sich nach der Bedrohung von Journalistinnen einig: Die Linksradikalen haben ihre Sympathien verspielt. „Euer Gehirn ist leer. Dumm, dumm!“, schrieb Franz Josef Wagner in der Bild. „Die Unterstützer von Linksunten.Indymedia haben nun ein Problem“, schrieb Deniz Yücel in der Welt. Und die Landtagsabgeordnete der Linkspartei, Juliane Nagel, twitterte: „Kann mir mal jemand erklären, warum #le2501 so gelaufen ist, wie es gelaufen ist? Ich verstehe nicht, was das mit den inhaltlichen Zielen, die ich durchaus teile, zu tun hat.“
Was ist bloß los mit diesen Vermummten in Connewitz? Hatte man sie nicht gerade noch verteidigt, nach der Randale von Silvester, auch in der taz? Hatte nicht sogar die SPD-Vorsitzende Saskia Esken für eine Deeskalation plädiert? Hatte die Polizei in Leipzig dem nicht sogar Folge geleistet und sich bei der Demonstration zurückgehalten? Na toll! Und womit danken diese Linksradikalen einem? Sie spucken drauf.
Nur: Das tun Autonome eben. Sie spucken drauf. Auf Sympathien. Taten sie schon immer. Gegen das System sein, das heißt für sie, unkontrollierbar zu bleiben. Prägend für die Identität der Autonomen in Deutschland ist die Randale am 1. Mai 1987 in Berlin-Kreuzberg, als Tausende sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Anlass für die Proteste war die Volkszählung. Man wollte sich nicht zählen lassen.
Heute lebt die Wirtschaft von Zählungen. Daten sind die Geschäftsgrundlage von Google, Amazon und Tesla. Autonomes Fahren funktioniert nur über die massenhafte Datensammlung aller Verkehrsteilnehmer, künstliche Intelligenz ebenfalls, ohne Daten geht nichts. Eine ganze Generation streamt sich freiwillig live im Netz, setzt sich stets in Szene, betrachtet jede Situation von den Blicken anderer aus. Auch Klimaaktivisten. Extinction Rebellion mobilisiert über die sozialen Medien, streamt live von den Aktionen; bei den Gruben-Besetzungen von Ende Gelände fliegen Drohnen über die Aktivisten, und zwar nicht Drohnen der Polizei, sondern des linken Videokollektivs Leftvision – für coole Clips nach der Aktion. Es geht um Inszenierung, um Sympathien; darum, große Teile der gemäßigteren Linken hinter sich zu versammeln und so politisch etwas zu verändern.
Das ist so vernünftig! Mit der Gesellschaft Politik machen, nicht gegen sie. Und dann gibt es echt noch immer junge Leute, die weder ihre Klarnamen noch ihre Fotos im Netz preisgeben und nicht einmal für die taz posieren wollen? Die taz, die ihrem Protest doch so positiv gesinnt ist, deren Reporterin bedrohen sie? Unvernünftig.
Genau. In Zeiten von Effizienz, Achtsamkeit, Transparenz ist Unvernunft: Widerstand. Jüngst tat die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ihre Solidarität mit autonomen Hausprojekten in Berlin kund. Nach ihrer Motivation gefragt, nannte sie „hygienische Gründe“: „Man muss jedes Schlupfloch sofort besetzen, jeden Zentimeter, den ein gieriger Kapitalismus einen Augenblick lang unbeobachtet lässt.“ Unbeobachtet.
Autonome unterbrechen den Kapitalismus auf ganz andere Weise als Extinction Rebellion auf ihren Straßenkreuzungen: Sie unterbrechen den Fluss von Daten, Bildern. Und den Fluss der „Likes“, der Ware Sympathie. Statt Instagram nutzen sie Indymedia. Sie sind Rotzgören. Ein Freiraum ist die autonome Szene nicht deshalb, weil sie besonders kreativ ist oder besonders effektiv das kapitalistische System angreift. Das können die Fridays for Future oder Extinction Rebellion womöglich besser. Autonome sind deshalb frei, weil ihnen Kreativität, Effizienz, Sympathien und Likes schnurzpiepegal sind. Anerkennung wollen sie nicht. Sie sind unverwertbar.
Soll die Gesellschaft also Journalistinnen von Rotzgören angreifen lassen? Wohl kaum. „Noch ein Foto, dann hau ich dir aufs Maul, und das Handy ist weg“, so ging die Drohung weiter. Manchmal kollidieren linksradikale Freiräume und Pressefreiheit. Dann lautet die Frage: Wann wird eine Grenze zu weit überschritten und wie reagiert man darauf angemessen, ohne die Freiheit zu stark einzuschränken? Diese Diskussion wird nun wieder geführt – und das muss sie auch, kontrovers und abwägend. Denn wenn sich der Reflex durchsetzt, jedes Gesicht ins Netz zu zerren, alles Unbeobachtete, Unvernünftige, Rotzige auszumerzen, dann wird es wirklich gefährlich. Es ist: eine Frage der Hygiene.
Quelle https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/bleibt-rotzig