NSU- Prozess – Kein Schlussstrich!

In Gedenken an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Ismail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter

Für den 6. April ist um 19.30 Uhr im „Café Grenzbereiche“ in Platenlaase (www.platenlaase.de) eine Informations- und Diskussionsveranstaltung geplant mit „NSU Watch“, die den Prozeß kritisch begleiten und darüber berichten (https://www.nsu-watch.info).

Im Frühjahr 2018 wird nach ca. fünf Jahren Verhandlungsdauer das Urteil im NSU-Prozess erwartet. Der Hauptangeklagten Beate Zschäpe droht lebenslängliche Haft und vier Unterstützern teils langjährige Haftstrafen. Von einer „lückenlosen Aufklärung“ allerdings, wie Merkel versprach, kann nicht die Rede sein. Die Bundesanwaltschaft hat über die Jahre unbeirrt an ihrer These des isolierten Trios festgehalten. Sie lehnte einen Großteil der Beweisanträge der Nebenklage- Anwält_innen ab, die die Angehörigen der (Mord-)opfer vertreten. Diese zielten u.a. darauf, das Unterstützungsnetzwerk und die Rolle von V- Personen und Sicherheitsbehörden aufzudecken. Wesentliche Fragen der Angehörigen der Opfer der NSU- Morde, der Bombenanschläge und Bankraube des NSU werden damit offen bleiben.

Unterstützungsnetzwerk
Es ist davon auszugehen, dass der NSU lokale Unterstützer_innen hatte, die an der Auswahl der Opfer und der Durchführung der Morde beteiligt waren. Schon bei der Durchsuchung einer durch Zschäpe angemieteten Garage in Jena im Jahr 1998, kurz vor dem Untertauchen des Trios Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos, fand sich neben Waffen und Sprenstoff eine Liste mit zahlreichen bundesweiten Kontakten, darunter auch mehrere V-Personen. Diese Liste wurde für nicht relevant befunden und verschwand für viele Jahre in einer Asservatenkammer.
Zwei Beispiele: 1. Mehmet Turgut wurde am 25. Februar 2004 in Rostock- Toitenwinkel in einem Imbisswagen an entlegener Stelle ermordet. Nebenklage- Anwalt Langer ging in seinem Schlussplädoyer auf Verbindungen des NSU nach Rostock ein. So wohnte Uwe Böhnhardts Cousine in knapp einem Kilometer Entfernung vom Imbiss. Außerdem lag die Wohnung von Marcus H., der auch auf der oben erwähnten Garagenliste stand, damals nur 230 Meter vom späteren Tatort entfernt. 2. Im Kiosk von Mehmet Kubaşık, der am 4. April 2006 in Dortmund erschossen wurde, war gut sichtbar eine Videokamera installiert, die aber nicht funktionierte, was die Täter offenbar wussten. Sowohl Straße als auch Kiosk wurden eigentlich nur von ortskundigen Dortmundern genutzt. Deswegen geht Frau Kubaşık davon aus, dass es bislang noch unbekannte weitere Mittäter_innen gab, die auch den Ort vor der Tat ausgekundschaftet haben. Dortmund hat eine sehr große und aktive Neonazi-Szene, doch bislang sind keinerlei Ermittlungen nach lokalen Helfer_innen angestellt worden.

Verfassungsschutz
Nebenklage-Anwalt Scharmer betonte, dass auffallend viele Akten zu V-Personen aus dem nahen Umfeld der NSU-Terrorzelle vernichtet worden seien, und bezeichnet dies als „offenkundige Vertuschung. Zahlreiche Chancen zu erfahren, wer wann von den Taten des NSU wusste und sie förderte“, seien ungenutzt geblieben. Er ging in seinem Abschlussplädoyer auf die 42 namentlich bekannten V-Personen im Umfeld des NSU ein. Teils handelt sich es dabei um hochrangige Neonazis: mit dem Lohn von Verfassungsschutz- und Polizeibehörden für die Spitzeltätigkeiten wurde die rechte Szene so beständig ausgebaut. Anwältin Von der Behrens legte den Fokus auf die Verhinderung der Aufklärung: die Verfassungsschutzbehörden hielten auch nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 gegenüber den Ermittlungsbehörden relevantes Wissen zum NSU-Komplex zurück. In Landesämtern und dem Bundesamt wurden hunderte Akten vernichtet. Außerdem haben als Zeugen auftretende Verfassungsschützer_innen und V-Personen Wissen vorenthalten oder sogar gelogen. An dieser Stelle sei auf den Mord an Halit Yozgat eingegangen: Der damalige Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme war anwesend im Internet-Café in Kassel als Halit Yozgat am 06. April 2006 dort erschossen wurde. Temme, der heute im Regierungspräsidium Kassel tätig ist, behauptete, er habe von dem Mord nichts mitbekommen. Die Forschergruppe „Forensic Architecture“ aus London baute ein detailgetreues Modell des Internetcafés nach und ging 2017 mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit: anhand von Vermessungen und Fotos vom Tatort, Zeug_innenbefragungen, Polizeiakten, Berichten usw., kam sie zu dem Ergebnis, dass Temme die Schüsse gehört und den Toten gesehen haben muss. Aber auch dieser durch die Nebenkläger_innen eingebrachte Beweisantrag wurde vom Gericht nicht angenommen. Der Vater des Opfers Ismail Yozgat sagte: „Temme lügt. Temme hat entweder meinen Sohn erschossen oder die Mörder gesehen“.

Institutioneller Rassismus
In der Mordserie, bei der neun Menschen mit ein und derselben Waffe hingerichtet wurden, ermittelte die Polizei stets im Umfeld der Opfer und Betroffenen- wegen Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Geldwäsche usw. Ein rassistisches Motiv wurde trotz eindeutiger Hinweise und Aussagen von Opfern und Zeug_innen kategorisch ausgeschlossen und die Betroffenen jahrelang verdächtigt, verfolgt und kriminalisiert.
In der Keupstraße in Köln-Mülheim explodierte am 9. Juni 2004 eine mit etwa 800 Zimmermannsnägeln gespickte Bombe vor einem gut besuchten Friseursalon. 23 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben. Etwa eine Stunde nach dem Anschlag sprach das LKA Nordrhein-Westfalen von einem Akt „terroristischer Gewaltkriminalität“. Es lag doch auf der Hand: Eine Nagelbombe ist immer ein politisches Statement und immer darauf ausgerichtet, möglichst viele Menschen zu verletzen oder zu töten. Dennoch musste das LKA dieses erste Statement zur Tat, auf Weisung des Innenministeriums NRW, noch nicht mal eine Stunde danach dahingehend korrigieren, dass „keine Hinweise auf terroristische Gewaltkriminalität“ vorlägen. Tags darauf gab Bundesinnenminister Otto Schilly bekannt: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu“. Die Ermittlungen richteten sich demzufolge gegen die Bewohner_innen der Keupstraße. Im Fall des Betreibers des Friseursalons wurden über Jahre Telefone abgehört und verdeckte Ermittler auf ihn angesetzt. Vom Anschlag Betroffene, die andere Vermutungen über die Attentäter äußerten, wurden zum Schweigen ermahnt, ihre Hinweise nicht weiter verfolgt und in der Straße Misstrauen und Argwohn untereinander gesät.

Kein Schlussstrich!
„Es gibt immer noch viel zu wenig Ermittlungsverfahren gegen lokale Unterstützernetzwerke des NSU und es gibt keine gegen staatliche Helfer und Unterstützer, gegen V-Leute des Verfassungsschutzes. Es fehlen vollständig die Verfahren gegen Ermittler, gegen Polizeibeamte, gegen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, gegen Präsidenten und Abteilungsleiter von Verfassungsschutzbehörden, Verfahren, die nicht nur wegen Inkompetenz und Untätigkeit sondern auch wegen aktiver Unterstützung geführt werden müssen. Auf diese Anklagebank gehören nicht 5 sondern 50 oder noch besser 500 Personen, die alle mitverantwortlich sind für diese Mordtaten, für diese Sprengstoffanschläge, nicht nur weil sie sie nicht verhindert haben, sondern auch weil sie nichts getan haben, um sie aufzuklären aber auch, weil sie aktiv mitgewirkt und unterstützt haben.“ (Angelika Lex, Vertreterin der Nebenklage im NSU-Prozess, 2013)

Tag X und Veranstaltung
Zum Tag X, dem Tag der Urteilsverkündung, wird aufgerufen nach München zu kommen und sich an Kundgebung und Demonstration zu beteiligen. Denn das Ende des Prozesses soll nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem NSU und der Gesellschaft, die ihn möglich machte, bedeuten. Der NSU soll nicht zu den Akten gelegt werden, es soll kein Schlusstrich gezogen werden, sondern es geht weiterhin um die Forderung einer lückenlosen Aufklärung.