„Die Leute müssen irgendwo schlafen“

Kirchengelände als G20-Camp

Vor der Johanniskirche in Hamburg-Altona dürfen G20-Gegner tun, was die Polizei ihnen andernorts nicht erlauben mag: campen. Pastorin Vanessa von der Lieth erklärt, wie das Gelände zum Zufluchtsort wurde.

„Welcome to Hell“ steht auf dem Plakat, das G20-Gegner auf einer Grünanlage im Hamburger Stadtteil Altona aufgestellt haben. Das Areal gehört der Hamburger Johanniskirche. Und es ist ein Zufluchtsort für die Protestler: Seit Montagabend stehen hier mehrere Dutzend Zelte. Die Kirchengemeinde lässt die Aktivisten in der Grünanlage übernachten, nachdem die Polizei sie aus anderen Camps vertrieben hat.

Vanessa von der Lieth, 42, ist seit 2012 Pastorin der Kirchengemeinde Altona-Ost, zu der die Johanniskirche gehört. Im Interview erklärt sie, warum das Zelten auf dem Kirchengelände geduldet wird.

SPIEGEL ONLINE: Frau Pastorin, seit Dienstagnachmittag campieren rund hundert G20-Gegner in der Grünanlage vor Ihrer Kirche. Wie ist es dazu gekommen?

Von der Lieth: Die Anlage ist von der Straße aus sichtbar und eignet sich offensichtlich zum Campen. Wir haben diese Menschen nicht eingeladen, aber sie haben nach einem kurzen Vorgespräch ihre Zelte bei uns aufgebaut. Jetzt dulden wir sie als unsere Gäste.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Von der Lieth: Wo sollen sie denn sonst hin? Die Leute müssen irgendwo schlafen, die können doch nicht alle auf der Straße nächtigen. Wir haben mitbekommen, dass die Polizei einige andere Protestcamps geräumt hat. Aber unsere Kirchengemeinde ist sich einig, dass Hamburg zum G20-Gipfel nicht nur Staatschefs einlädt. Die Menschen, die am Protest teilnehmen wollen, müssen auch untergebracht werden.

SPIEGEL ONLINE: Ist das die Aufgabe der Kirche?

Von der Lieth: Die Aufgabe der Kirche ist seit jeher, Schutzräume und Rückzugsorte zu bieten. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, Menschen schlafen zu lassen, damit sie zur Ruhe kommen. Und es ist niemandem dienlich, wenn Protestler drei Nächte nicht schlafen können. Im Gegenteil. Wir sehen uns in der Pflicht, deeskalierend zu wirken.

SPIEGEL ONLINE: Die wenigsten Ihrer Gäste sind Gläubige.

Von der Lieth: Es sind Menschen mit einem berechtigten Anliegen. Uns ist nicht wichtig, welcher Religion oder Herkunft sie sind.

SPIEGEL ONLINE: Wie läuft es mit Ihren Gästen?

Von der Lieth: Bisher hatten wir keine Probleme. Die Gruppe ist ausgesprochen freundlich, kooperativ und gut organisiert. Sie haben sofort Müllbehälter aufgestellt, Wassercontainer mitgebracht, sie kümmern sich darum, dass es genug Toiletten gibt. Und sie nehmen auch Rücksicht auf die Nachbarschaft, zum Beispiel drehen sie die Musik abends runter.

SPIEGEL ONLINE: Wie reagieren die Nachbarn?

Von der Lieth: Meinem Eindruck nach positiv. Wir erleben eine wachsende Solidarität. Einige Nachbarn nehmen Kontakt auf und bringen Kaffee vorbei.

SPIEGEL ONLINE: Und die Polizei?

Von der Lieth: Die hat nachgeschaut und uns gefragt, ob wir das Camp hier haben wollen. Als wir gesagt haben, dass wir es dulden, ist die Polizei wieder weggefahren.

SPIEGEL ONLINE: Die Polizei begründet ihr hartes Vorgehen gegen die Camps damit, dass diese ein „Rückzugsort für militante Straftäter“ seien und ein potenzieller Mobilisierungsraum, in dem sich Autonome verbarrikadieren könnten. Macht Ihnen das keine Angst?

Von der Lieth: Der Verzicht auf Gewalt ist die Voraussetzung dafür, dass wir dieses Camp dulden. Wir glauben, dass der große Teil der Protestierenden friedlich ist. Nur weil es sich bei einem kleinen Teil der Leute möglicherweise um Gewalttäter handelt, können wir nicht allen, die zu uns nach Hamburg kommen, jegliche Schlafmöglichkeiten verweigern.

SPIEGEL ONLINE: Wie würden Sie reagieren, wenn die Polizei versuchen würde, auch das Camp vor Ihrer Kirche zu räumen?

Von der Lieth: Das ist eine spekulative Frage. Die Polizei weiß, dass es sich um ein kirchliches Grundstück handelt.

SPIEGEL ONLINE: Unterstützen Sie das Camp aktiv?

Von der Lieth: Wir werden Strom zur Verfügung stellen, sofern wir das technisch hinkriegen.

SPIEGEL ONLINE: In den nächsten Tagen werden noch viel mehr Protestierende nach Hamburg reisen. Wo sollen die unterkommen?

Von der Lieth: Bei uns auf der Grünfläche gibt es eine offensichtliche räumliche Grenze. Wir können nicht alle aufnehmen, das haben wir schon mit der Gruppe abgesprochen. Wer dann hier bleibt, das muss die Gruppe selbst organisieren.

SPIEGEL ONLINE: Zu Ihrer Gemeinde gehören zwei weitere Kirchen. Werden Sie die auch für Protestcamps öffnen?

Von der Lieth: Wir werden niemanden dazu einladen, dort zu campieren.

SPIEGEL ONLINE: Wie lange werden Sie den Campern vor der Johanniskirche erlauben, bei Ihnen zu nächtigen? Bis zum kommenden Sonntag nach dem Gipfel?

Von der Lieth: Wir werden das hier tolerieren, solange es nötig ist und friedlich zugeht.

SPIEGEL ONLINE: Und was geschieht am Sonntag, wenn die Gläubigen zum Gottesdienst kommen?

Von der Lieth: Wir haben am kommenden Sonntag in dieser Kirche keinen Gottesdienst. Aber wenn es so wäre, dann würden wir ihn ganz normal hier feiern.

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